Das Winter-Bücherjahr 2019 des ISSV
«Über kurz oder lang» – Ein Rückblick
Thomas Heimgartner liest aus «Kaiser ruft nach». Nekrovelle
Seine ganze Familie lauschte dem Auftritt von Thomas Heimgartner, der den Auftakt zum Marathon der Neuerscheinungen unternahm. Seine amüsante «Nekrowelle» dreht sich um Nachrufe und deren Schreiber, welche sich – zunehmend professionell – mit der Festschreibung von Identitäten vor und nach dem Tode beschäftigen. Das makabre Thema stiess nach der Leseprobe auf eine angeregte Diskussion.
Heidy Gasser liest aus «Die Verführerin»
Lebhaft aufgenommen wurde auch Heidy Gassers Auseinandersetzung mit den posthum gefundenen Briefen einer Obwaldner Bürgerin, die ihrem unerfüllten Familienleben mittels erotischer Eskapaden, vorwiegend mit Geistlichen, erfolgreich zu entrinnen suchte – als eine sozusagen vom Milieukatholizismus profitierende Verführerin im prüden Umfeld der Fünfzigerjahre.
Beat Hüppin liest aus «Gadastatt» und «Donetta, der Lichtmaler». Romane
Beat Hüppins «Gadastadt» führt in in die Bündner Bergbauernwelt der 1880er Jahre, nach Fondai, wo der Jüngste den Hof dem Ältesten überlassen und den Familienwunsch nur per Auswanderung realisieren kann – vielleicht im touristisch aufblühenden Davos. Ein weiterer Roman dreht sich um den vor einiger Zeit wiederentdeckten Fotografen Roberto Donetta im Bleniotal um 1900, der sein von der Gattin gehasstes Hobby nur mittels ergänzendem Samenhandel zu einigem – wenig lukrativem – Erfolg bringen kann und den Ruhm mit dem Zerfall der Familie bezahlen muss.
Andreas Iten liest aus «Prestobello». Roman
Eine ganz andere Umkehrung der Lebensperspektiven nimmt Andreas Itens Bauunternehmer «Prestobello» vor, der nach dem Verlust seiner Partnerin dem komfortablen Lebensabend entsagt und das Leben in der Hängematte eines Zeltplatzes in Venetien neu entdeckt. Und damit den homo ludens in sich, der seinen Namen ins Italienische übersetzt, mit dem Schuhhändler im Dorf philosophiert, zum Mäzen mutiert und seine Villa in ein Uhrenmuseum umfunktionieren lässt.
In einer Stimmung altersweiser Gelassenheit ergab sich die Runde denn auch in die Mittagspause im nahen «Helvetia», zu Stärkung und Austausch.
Beat Portmann liest aus «Über Nacht». Roman
Nachmittags nahm uns Beat Portmann mit auf eine durchwachte Nacht im Umkreis der Lokalblattkritikerin Nora, die den Protagonisten des zu rezensierenden Abends, den Nachbarn und Chansonnier Mathias, unverhofft selber zum Auftritt chauffieren muss, nicht ohne unterwegs mit zusätzlichen Fahrgästen in Geplauder und Geträume abzugleiten. Eine Fahrt durch Erinnerung und in labilem Gleichgewicht gefühlte Herausforderung nimmt ihren nächtlichen Lauf.
«Blaues Blut». Royale Geschichten aus der Schweiz
Mit aufblasbarer Krone kostümiert führte Michael van Orsouw in die Parade der königlichen Gäste ein, welche die Schweiz in den vergangenen Jahrhunderten heimgesucht haben. So beleuchtete er den öffentlichkeitsscheuen Auftritt Ludwigs des Zweiten von Bayern auf seinem verehrten Rütli, zu welchem er dem begleitenden Schauspieler Kainz endlose Tell-Deklamationen abnötigte. Dampfboot und Alphornbläser halfen allerdings wenig beim Versuch begeisterter Honorationen, den Schiller-Fan zum Ehrenbürger zu machen.
Anja Siouda liest aus «Berührte Blüten». Roman
Weit profaner ging es dann weiter mit dem abschliessenden Roman aus Anja Sioudas interkulturellen Trilogie «Berührte Blüten». Die aus der Schafalp im ersten Teil bekannte Elena will, frisch verheiratet mit dem Poeten Qais, in Tunesien eine Sprachschule eröffnen und gerät während des blutigen Opferfests, in dem unzählige Schafe ihr Leben lassen müssen, mit islamistisch verbohrten Verwandten in Konflikt, die «exotische» Kirschbäume ebenso hassen wie Ausländerinnen. Tiefstes Mittelalter, meint ihr Gemahl dazu.
Andrea Ego liest aus «Wenn wir durch den Regen tanzen». Roman
Eine schwierige Beziehung steht auch im Zentrum der Liebesgeschichte von Andrea Ego, die um die Architektin Nela und den vom Aussteigertum träumenden Corvin kreist. Der Tanz auf den omnipräsenten Bühnen des Berner Zibelemärit kommt nicht zustande, weil Corvin in fremden Ländern Menschen treffen und mit ihnen tanzen möchte. Nela hat diese Enttäuschungen schon einmal erlebt und geht.
Viktor Steinhauser liest aus «Abtauchen». Kürzestgeschichten & Miniaturen
Viktor Steinhausers Notate kommen nicht im romanesken Format daher, sondern als schlanke, vergeistigte, leichte Kürzestgeschichten aphoristischen Zuschnitts: Kastanienbätter fallen da wie Hüllen von Stripperinnen, Zucker trifft auf Salz, Hoch verdankt sich dem Tief, und der Glascontainer assoziiert er lakonisch mit «déja bu». Noch kompakter in den «Miniaturen»: die Kleine ist Grosses Kino, und gestrickte Socken wärmen nicht nur Füsse.
Niklaus Lenherr informiert über das Lyrikprojekt «Der temporäre mobile Lyrikweg». Kurzvortrag und Diskussion
Im jeweils zum Schluss anberaumten Gespräch stellte diesmal Niklaus Lenherr sein jüngstes Projekt im Rahmen seiner Poesiewege vor. Ging es 2014 um die Seilbahnen im Urnerland, in denen die Tafeln mit Gedichten von innerhalb und ausserhalb zu lesen standen, so geht es nun im Zeichen des Spitteler-Jahres um 76 Autor*innen, deren Zeilen, übersetzt in die Landessprachen, auf temporär eingerichteten Lyrikwegen anzutreffen sind. Jeweils zehn gesellen sich für einen Monat zur Partie, zu Beginn natürlich am Spitteler-Quai in Luzern, dann im Ranft, in Ennetbürgen, auf dem Zugerberg, in Schwyz, und nächstes Jahr in Cham (Ziegeleimuseum). Wozu Poesie ausstellen?, darüber wurde diskutiert, und, mit Lenherrs Hoffnung auf die kleinen Wirkungen ermutigt, traf sich die entlassene Runde zum letzten Bier im Restaurant.
(© Text: Adrian Hürlimann. Fotos: Bruno Bollinger. Foto von Anja Siouda: Evelina Jeker Lambreva)