Im langen Schatten des Schwyzer Klassikers
Die 5. Rigi-Literaturtage auf Rigi-Kaltbad, 5. - 7. September 2014
© Video: Silvia Götschi
Strahlend und sichtig präsentierte sich unser aller Hausberg zur gewohnten Zeit, dem ersten Septemberwochenende. Die fünften Literaturtage, organisiert vom ISSV und drei rührigen «Rigi-Frauen», waren heuer auf Kaltbad und Staffelhöhe angesiedelt. Die «Vernehmlassungen» galten diesmal Meinrad Inglin, dessen Werk zunächst mit Beispielen aus privatester Sicht angegangen wurde: mit Ausschnitten des Briefwechsels mit seiner nachmaligen Ehefrau, Bettina Zweifel. Bodo Krumwiede und Prisca Gaffuri zeichneten die Beziehungskiste mit verteilten Rollen und schälten die zögerliche Haltung des jungen Schriftstellers in Sachen Ehe gegenüber der zwischen Schwärmerei und Enttäuschung hin- und hergerissenen Liebespartnerin bühnenreif heraus.
Als Sonntagsmatinee folgte wie gewohnt der zweite Teil der Hommage, der «Wortwechsel»: Unter der sportlichen Moderation von Hardy Ruoss, die jeden Arena-Tumult befriedet hätte, kreuzten Daniel Annen, Inglin-Spezialist, Werner Hubatka (lnglin-Dissertation) und Biografin Beatrice von Matt die Klingen. Letztere, aufgewachsen in ähnlich milieukatholisch dominierten, sinnenfeindlichen Verhältnissen wie der Schwyzer Patriziersohn, deutete den ersten bedeutenden Roman, «Die Welt in Ingoldau», als eine erste Auseinandersetzung mit der eigenen gesellschaftlichen Realität, dies nach hochfahrenden Expressionismus-Versuchen und unter dem Einfluss des Psychologiedozenten Paul Häberlin. Der ungeheure Skandal, der den Autor in Schwyz zeitlebens zur «persona non grata» machen sollte, bedeutete eine durchschlagende Enttäuschung und bewirkte den Rückzug in geschichtsmythische und naturmythische, also gänzlich unpolitische Gefilde.
Erst mit dem Hauptwerk, dem «Schweizerspiegel» (1938), wandte sich Inglin erneut und endgültig dem Zeitgeschehen zu, wobei die geschilderten Geschehnisse und nationalen Krisen des Ersten Weltkriegs eine Zerreissprobe des Landes - als Warnung vor der Wiederholung dieser Fehlentwicklungen vor Ausbruch des Zweiten intendiert gewesen seien. Die Runde war sich einig, dass in diesem epischen Riesenbilderbogen keine Glorifizierung der Nation oder geistige Landesverteidigung vorherrsche. Im Gegenteil sei das ideengeschichtliche Familienepos als «zu düster» rezipiert worden. Hubatka zeigte auf, dass die omnipräsente Darstellung des Militärs und der Führungskonfllikte authentisch, die Interpretation der Führungsdifferenzen gelungen seien. Mit seiner Deutung der Naturmystik als Blut-und-Boden-nah unterlag er 2 : 1, wobei von Matt mit Hinweis auf Inglins mehrmaligen läuternden Gesinnungswandel Richtung Demokratie konterte. Das gefesselte Publikum konnte den Eindruck nur bestätigen, dass Inglins Sicht Parallelen zur heutigen Lage der Nation und Europas mehr als nahe legt. War laut von Matt in den Siebzigern die stilistische Antipode Robert Walser einflussreicher, so nehme heute, wo das Erzählen wieder im Vormarsch begriffen sei, das Ansehen des Schwyzers zu.
Inglin galt auch die Freiluft-Projektion von «Der schwarze Tanner» in Anwesenheit von Regisseur Xavier Koller, der den Widerstand der Muothataler Bergbauern von 1940 gegen die Vereinnahmung durch die helvetische «Anbauschlacht» packend und sprachlich authentisch dramatisiert.
Aber auch die Gegenwart kam zum Zug auf dem besonnten Berg. Stefanie Blasers Bergkapitel aus dem Roman «Mein sprödes Glück» verbannte von Beginn weg jede Heimattümelei und fasste den einsamen Besuch einer Einsamen in klaustrophobisch anmutende Bilder, in kafkaesker Sprachpräzision. Pianist und Singer-Songwriter David Zürcher setzte ihren Zeilen eines sanft rockenden Surrealismus entgegen.
Den Nachwuchs vertrat auch Katrin Blum, Reiden, wie Blaser Absolventin eines Schreibstudiums und als einzige der diesjährigen Gewinner der Zentralschweizer Literaturförderung präsent (die weiteren drei waren verhindert). Ihre Heldin «Lou » wird von der stets vorgezogenen, musterhaften Schwester zu einer eigenständigen Sozialisation herausgefordert, wobei ihr die Biographie des getrennt lebenden Vaters die Richtung weist. Herrschte hier ein protokollarisch wirkendes Stakkato der kurzen Sätze vor, so ging es in Anita Schornos Dialektgeschichten gemütlicher zu und her, und Christine Fischers kauzige Hüttenwartin «Els» in den weiten Hochtälern Schwedisch Lapplands entsprang einem formal ganz anderen, episch langen Atem. Die drei Autorinnen setzten den Schlusspunkt der Tage in einer Gruobi mit Lagerfeuer unterhalb Kulm.
Wie gewohnt in der Felsenkapelle, Kaltbad, fand die Lyrik-Matinee statt. Eduard Kloter, Meggen, heuer der Senior unter den Lesenden, bot Einblick in seine altersweise, von einem reichen Arztleben im Entlebuch und in fernen Welten geprägte lyrische Gedankenprosa. Brigit Kellers expressiv verdichtete Kurzgedichte loteten die Ränder des Existenziellen aus und kreisten um die Liebe aus weiblicher Erfahrung, symbolisiert in einer Jahrtausende alten Figur im Museum von Damaskus. Max Huwyler, Zug, erregte mit seinen träfen Heimat-Kampfgedichten Heiterkeit und mit seinen hochdeutschen Miniaturen Nachdenklichkeit. Solch zweifache Wirkung ging auch von den vertonten Gedichten Walter Käslins aus, die Rita Barmettler singend und sich auf der Gitarre begleitend vortrug und die überdies durchaus zu Tränen rühren wussten.
Zwei arrivierte und bewährte Autoren bestritten den Samstagnachmittag in der Reformierten Kirche: Martin R. Dean las aus seinem vorletzten Roman, in dem es um das Verkaufen der Schweiz geht, um Tourismus und ein Reisebüro in London und um einen weiteren Heiratsunwilligen. Der Berliner Journalist Andreas Lesti führte ein in seine Recherchereise durch die Alpen und verweilte unter anderem auf dem «Zauberberg» in Davos.
Zu einer überraschende Solo-Performance geriet Felix Melzer, Laufenburg, seine Lesung mit verteilten Rollen, den fiktiven Besuch Gullivers bei Voltaire in einem Langgedicht ausmalend – eine ebenso geistreiche wie phantasiegeladen-gewitzte Gedankenreise in packenden Dialogen.
Nur in Wolldecken gehüllt zu geniessen war die Krimi-Lesung auf nächtlicher Wiese, die Silvia Götschi im Sektenmilieu auf der Rigi ansiedelte. Das schauerliche Geschehen zwischen Ritualmord und Massenhysterie wurde atmosphärisch dicht untermalt von den beiden Perkussionisten Hubert und Karin Sander aus dem Montafon, die Rasseln, Pfeifen und Pauken im Fackelschein ertönen liessen.
Die Palette war umfassend, die Stimmung ausgezeichnet, die Gespräche angeregt.
Weiter so im nächsten September!
Weiter so im nächsten September!
Adrian Hürlimann