Gott in Welt – Neues zu Spinozas Ethik

Der deutschschweizer Physiker und Philosoph Timon Georg Böhm hat im Hamburger Felix Meinerverlag mit „Paradox und Ausdruck in Spinozas Ethik“ einen neuen Zugang zu dem portugiesischniederländischen Philosophen, Maranen, Glasschleifer Baruch bzw. Benedikt Spinoza (1632-1677) in 13 Kapiteln vorgelegt.  

Von Albert Einstein ist überliefert: “Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.“ Mit dem Erzieher des Menschengeschlechts und Verfasser von „Nathan der Weise“ lässt sich Gotthold Ephraim Lessing ebenfalls als Fürsprecher Spinozas anführen. Friedrich Nietzsche gar bekennt seinem Freund Overbeck nach seiner einstigen Kritik am „Hocuspocus von mathematischer Form“ auf einer Postkarte im Juli 1881 gar: „Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht; dass mich jetzt nach ihm verlangte, war eine Ìnstinkthandlung…Nicht nur, dass seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntniss zum mächtigsten Affekt zu machen- in fünf Punkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit- ; die Zwecke-; die sittliche Weltordnung-; das Unegoistische-; das Böse-;…“

Wie also nun Zugang finden zu einem solch sperrigen Denker, der – schwierig zu lesen und kompliziert zu zitieren ist – neben der als „Tractatus Theologico-Politicus“ mit enormer Bibelkenntnis verfassten Abhandlung als Hauptwerk eine glockenklare „Ethica Ordine Geometrico Demonstrata – Die Ethik mit geometrischer Methode begründet“ vorgelegt hat?

Böhm nähert sich als Physiker und Nietzschekenner mit einer problemgeschichtlichen Methode, die von dem Spannungsverhältnis von Ethik und Metaphysik ausgeht. Spinoza gehe es weniger um eine Tugendethik wie bei Aristoteles noch um eine Gesinnungsethik wie etwa bei Kant. Böhm verweist auf den eigentlich irreführenden Titel „Ethica“, der wohl von posthumen Herausgebern stammt (18) und betont in Anlehnung an den Spinozaforscher Wolfgang Bartuschat: „Metaphysik ist als Ethik zu entwickeln und zwar deshalb, weil in der Ethik erst jener Bezug des in der Metaphysik erörterten Absoluten auf das endlich-Einzelne explizierbar ist“(19). Bereits in der Problemstellung wird deutlich, dass von Spinozas Gottesbegriff monistisch als Substanz bestimmt, Moralität nicht mit herkömmlicher Normativität und Vorschriften des menschlichen Begehrens gleichgesetzt werden kann. Spinoza betont die Immanenz Gottes in und als Welt gegenüber extramundanen, an  tranzendentalen Konzepten orientierten, anthropomorph gefasster Rede von Gott. Wiederholt führt Böhm den prägnanten Satz 3p9s (253u.ö.) für das menschliche Verhalten an: „Aus diesem Allem ist also entschieden, dass wir nichts erstreben, wollen, begehren, noch wünschen, weil wir es für gut halten, sondern vielmehr, dass wir deshalb etwas für gut halten, weil wir es erstreben, wollen, begehren und wünschen.“ Normen sind eben zeitabhängig entstanden, graduierbar und an verschiedene Adressaten gerichtet (21). Das Grundbegehren des Menschen, der sog. Conatus, ist so je und je zu entwickeln. Böhms originärer Ansatz durchzieht sodann die Entfaltung der beiden Begriffe Paradox und Ausdruck. So versucht er die Paradoxien zu entparadoxieren: Ursache-Wirkung, Substanz-Gott, Gott-Natur, Allgemeines-Besonderes,Ewigkeit-Zeitlichkeit, Ganzes-Teil, Freiheit-Notwendigkeit. Er nimmt dabei Spinozas Ansatz Gott als Substanz, causa sui und deus sive natura auf und stellt die These auf, dass durch die Relation des Ausdrucks oder der Expression, die Gott als Substanz zu Begriffen wie Essenz, Attributen und Modi mit innerer Notwendigkeit entfaltet.

Methodisch mit Besinnung auf die philosophiegeschichtliche Tradition lehnt der Autor sich an nikolai Hartmanns Unterscheidung von Systemdenkern und Problemdenkern (39) und arbeitet sodann drei typen von Paradoxien heraus (Barbierp., Lügner und Zenons Pfeil), ehe er die implizite Ethik expliziert.

„Gott liebt sich selbst mit einer unendlichen geistigen Liebe“5p35 (53) – die Erkennbarkeit Gottes deutet Spinoza nach Böhm im Sinne von Seinsmodi um und unterscheidet etwa bei Adam, Abraham oder Hiob nicht den gebietenden Gott, sondern sieht in den Menschen, ihre Handlungen und Affekte als Weisen oder Modi Gottes, sie sind je und je Ausdruck Gottes selbst. Im Mittelteil geht Böhm mit einzelnen Beispielen auf die Paradoxien des Substanzmonismus ein, erläutert anhand von Duns Scotus und Descartes die Washeit der Dinge und legt die cartesische Anleihen in der Attributenlehre dar. Mit 1p15 „Was auch immer ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden“ wird die Grundfrage eines Reformators wie Bullinger lebendig: finitum capax oder non capax infinitum eben beinahe wie eine Unschärferelation aus der Physik ausgeführt und als aus der jeweiligen Perspektive wechselnd zu betrachten vorgestellt, wobei die Substanz an sich unteilbar ist. (117). Die kontroverse Einzeldiskussion hierzu wird vom Autor kurz angerissen, ehe das zentrale Kapitel 7 zum Ausdruck nicht nur als Ereignis, sondern geradezu als Handlung im Sinne von begreifen, verursachen und inhärieren im Sinne einer Metaphysik sub specie aeternitatis  entfaltet und mit einem Konkordanzkompendium zu „exprimere“ in der Ethik versehen wird.  Macht, Wille, Handlung und Freiheit werden nun problemgeschichtlich unter den Aspekten Paradox und Ausdruck durchdekliniert. Böhm wendet sodann noch ein sog. Iteratives Tracing-Verfahren (235) am Beispiel der bereits bei Cicero erwähnten notiones communes, also allen Menschen gemeinsamen Vorstellungen, an, die als einzige nicht-nominalistische Elemente in Spinozas Philosophie auftauchen. Böhm spricht bezüglich des Freiheitsbegriffs und der Teilhabe im Sinne der Einsicht in die Notwendigkeit vom Verzicht auf eine Vermittlung durch Instanzen von einem „vielleicht auch reformatorischen Aspekt in Spinozas Philosophie. 

 „Das Staunen war der Anfang der Philosophie – und ist zugleich das, was sie hinaustreibt nach neuen Meeren“ (258)– mit diesem Satz beschliesst Böhm seinen Lektüreanstoss und seine Selbstdurchforschung nach Heraklit zu Spinoza. Man fühlt sich erinnert an Kants aufklärerisches Saper aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Indessen tönt es noch spannend , wenn etwa der bedeutende Marburger Kantianer Hermann Cohen in seiner „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ gegenüber Spinoza reklamiert, Mitleid stamme aus derselben Quelle, wie der Neid: „Und Stoiker, wie Spinoza im letzten Grunde ist und bleibt, denkt er in der Tat nirgends an das soziale Leid des Menschengeschlechts.“(162)

 Spinozas zentrale Lehre von den Affekten bildet dennoch dann den wohl bedenkenswertesten praktischen Teil seiner Philosophie: „Unter Affekt verstehe ich Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen 3def3. Böhm jedenfalls kennt nicht nur den Satz Isaac Newtons aus der Physik: „Wo ein Körper ist, kann ein anderer nicht sein“, sondern versteht es, die Lust am Lesen Spinozas Philosophie neu zu wecken.