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Wohin geht die deutsche Literatur?

Aspekte und Tendenzen der zeitgenössischen Dichtung

Unser Mitglied Mario Andreotti hielt an der ISSV-Jahresversammlung vom 22. März 2025 in Altdorf einen Vortrag zum Stand der deutschen Literatur. Dabei ging er unter anderem auf postmoderne Formen der Literatur ein, übte Kritik, wog ab – ein Vortrag mit grosser Leidenschaft für die Literatur.

Von Mario Andreotti

In der deutschen Literatur kam es in den 1970er und 1980er Jahren zu einer Tendenzwende: zur Wende von der Moderne zur sogenannten Postmoderne. Hatte sich die moderne Literatur, vor allem im Nachgang der 68er Bewegung, in erster Linie als «littérature engagée» verstanden, als eine Literatur, in der Dichtung und Politik eng miteinander verflochten sind, so setzte Anfang der neunziger Jahre ein Paradigmenwechsel ein. Dieser Paradigmenwechsel hängt zunächst einmal mit teilweise fundamentalen Veränderungen der Politik, der Gesellschaft zusammen, die ich Ihnen kurz nennen möchte: Da ist als Erstes das Ende des Kalten Krieges und damit der deutschen Teilung nach dem Fall der Mauer 1989, dann die Globalisierung und die Entstehung einer multikulturellen Gesellschaft, schliesslich die zunehmende Dominanz einer Eventkultur, einer «Spassgesellschaft», wie sie Kulturkritiker bezeichnet haben, und nicht zuletzt natürlich die Digitalisierung unserer ganzen Gesellschaft sowie die Transgender-Debatte. Diese wenigen Stichwörter, meine Damen und Herren, mögen genügen, um den gewaltigen gesellschaftspolitischen Wandel seit dem Beginn der 1990er Jahre, vor dem Hintergrund einer Welt, die vor allem durch neue Kriege immer unsicherer wird, sichtbar zu machen. 

Dass dieser Wandel Auswirkungen auf die Literatur, auf das Selbstverständnis der Autorinnen und Autoren haben musste, liegt auf der Hand. In der Tat meldete sich eine neue Generation von Schriftstellern zu Wort, eine Generation, der es nicht mehr so sehr um die Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Fragen, etwa mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts oder der industriellen Arbeitswelt der Gegenwart, sondern vielmehr um die eigene Biographie, die eigene private Welt geht. Die Autorinnen und Autoren dieser neuen Generation pflegen ihre Präsenz zunehmend auf Facebook und vor allem auf Instagram und TikTok. Dort teilen sie mit ihrer digitalen Gefolgschaft nicht nur Neuigkeiten über ihre Bücher, sondern ein stilisiertes Bild von sich selbst, so dass man sich zu Recht die Frage stellen kann, ob es hier noch um Literatur oder doch mehr um Lifestyle geht. Durch Social Media wandelt sich die Rolle der Autorinnen und Autoren: Sie werden zunehmend zu Vermarktern ihrer eigenen Werke. Die Trennung von Werk und Autor, ein Kernanliegen der Literaturwissenschaft, wird damit von den Autoren selbst aufgehoben. Die Möglichkeit, literarische Werke zu vermarkten, gilt in der Literaturkritik längst als typisches Merkmal postmoderner Literatur. Zu all dem kommt das Vordringen der künstlichen Intelligenz, die gleichsam auf Knopfdruck sinnvolle und sprachlich korrekte Texte generieren kann, und das selbst in literarischen Genres. Für Literaturwissenschaft und Literaturkritik bedeutet das eine noch nie dagewesene Herausforderung, und zwar insofern, als sich das Bild von der Autorin, vom Autor, aber auch von dem, was Kunst ist und was nicht, und nicht zuletzt der Begriff des Urheberrechts grundlegend verändern. 

Seit Mitte der 1990er Jahre fällt auf, dass sich die Autoren die Themen für ihre Werke immer häufiger von den aktuellen journalistischen Trends vorgeben lassen. So stellen wir heute eine signifikante Häufung von Themen wie Partnerstress, «Me too», Gender-Boom, Migration, Familie und Kindheit fest. Romane vom Erwachsenenwerden, sog. Coming of Age-Romane, wie der kürzlich erschienene Debütroman «Walzer für Niemand» von Sophie Hunger» befinden sich seit etwa 2000 im deutlichen Aufwind. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die bevorzugten literarischen Themen der kommenden Jahrgänge die Migrationskrise, die Zeitenwende als Folge neuer Kriege, die drohende Klimakatastrophe, die Cyberkriminalität, unsere Zeit der Fake-News, das Problem der künstlichen Intelligenz und das Spiel mit Identität und Geschlechterrolle sein werden. Dass diese zunehmende Standardisierung der Themen zu einer gewissen Uniformierung der zeitgenössischen Literatur geführt hat, lässt sich kaum mehr übersehen. Besonders gut zu beobachten ist dies in Texten von Absolventen der Literaturinstitute, die ihre Themen meist so wählen, dass sie möglichst medienkonform sind.

Nach diesen mehr allgemeinen Überlegungen zu bevorzugten Themen der zeitgenössischen Literatur wenden wir uns, geschätzte Hörerinnen und Hörer, einigen ihrer spezifischen Merkmale zu. 

Die erste Auflage von 1’500 Exemplaren eines Romans ist häufig nach einem Jahr noch nicht verkauft. Und wer seinen Erstling mit dem zweiten Buch nicht übertreffen kann, verschwindet ganz.

In der Regel erhalten Autoren acht bis zehn Prozent vom Ladenpreis. Wichtiger als der Verkauf der Bücher sind die Lesungen, bei denen die Autoren jeweils mit einem Honorar von 500 bis 600 Franken rechnen können. Viele der Berufsschriftsteller leben denn auch in erster Linie von den Lesungen und nicht vom Buchverkauf. Verleger sprechen davon, dass Kritiken in Printmedien oder Literaturgespräche im Fernsehen den Verkauf der Bücher kaum mehr beeinflussen. Die Zeit der Grosskritiker, etwa eines Marcel Reich-Ranicki, der als Literaturpapst, ob er nun lobhudelte oder verriss, der Literatur eine unglaubliche Popularität verschaffte, scheint endgültig vorbei zu sein. Dazu kommt, dass Literaturinstitute für den schriftstellerischen Erfolg eine immer grössere Rolle spielen: in Deutschland etwa das «Leipziger Literaturinstitut», in Österreich die «schule für dichtung» in Wien und in der Schweiz das «Schweizerische Literaturinstitut» in Biel. Deren Besuch lohnt sich für angehende Autorinnen und Autoren, weil diese Institute in der Regel mit Literaturagenten, Publikumsverlagen und Institutionen, die Stipendien vergeben, verbandelt sind. Es dürfte kein Zufall sein, dass viele der in den Medien als erfolgreich verkauften Schriftsteller ein solches Literaturinstitut absolviert haben. Der Gewinner des Deutschen Buchpreises vor zwei Jahren, der Berner Kim de l’Horizon mit seinem genderfluiden Roman «Blutbuch», ist dafür zurzeit das beste Beispiel. Dass die Romane dieser Autoren häufig reine Gefälligkeitsprosa sind, die möglichst nicht zu stark aneckt, ist, verehrte Anwesende, die Kehrseite der Medaille. Der Schweizer Literaturkritiker Philipp Tingler hat nicht ganz zu Unrecht von einer «Literaturbetriebsprosa» gesprochen. Viele Autoren benehmen sich heute so wie Kellner im Restaurant, die es allen recht machen wollen.

Dazu gesellt sich zunehmend der Wunsch vieler Autorinnen und Autoren, ihr Leben in Autobiografien für die Nachwelt festzuhalten. Wer bei Amazon durch die Hitliste der neu erschienenen Autobiografien stöbert, findet das ganze Spektrum dessen, was sich das menschliche Leben an Dramen und Drämchen ausdenkt. Man erfährt da beispielsweise, wie Thomas Gottschalk seine Liebeskrise und wie eine Fernsehmoderatorin ihre wechseljahrbedingten Hitzewallungen überwunden hat. Volkshochschulen bieten Kurse für autobiografisches Schreiben an und Ghostwriter liefern gleich das fertige Manuskript ab. Das Feuilleton steht dieser Art von «Betroffenheitsliteratur» zu Recht eher ablehnend gegenüber. 

Im Verhältnis zwischen Verlag und Autor, das früher von Kontinuität und persönlicher Bindung bestimmt war wie etwa jene zwischen dem Verleger Julius Campe und dem Autor Heinrich Heine, hat sich eine Lücke aufgetan. Und diese Lücke besetzen nun die Literaturagenten. Heute kann ein Autor nicht mehr darauf wetten, dass der Lektor, der sein Manuskript betreut hat, beim Erscheinen des fertigen Buches noch im Verlag ist. Ebenso wenig ist für die Autoren die schriftstellerische Heimat gesichert. Verlagswechsel sind heute üblicher geworden. Man wirbt einander ab. In diesem flexibel gewordenen Buchmarkt befreien sich immer mehr Verlage von alten Bindungen und werden so zu traditionslosen Profitcentern umgebaut. Und vergessen wir eines nicht: Immer häufiger kommt die Idee zu einem Roman nicht mehr vom Autor, sondern vom Verlag. Der Autor wird so zu einem Auftragsarbeiter umfunktioniert. Zu all dem kommt, dass heute ein Grossteil des deutschen Buchmarktes nicht durch deutsche, sondern durch übersetzte internationale Literatur bestimmt wird. Zum Vergleich: Jährlich werden weniger als 1% aller Bücher deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ins Englische übersetzt. 

Menschen brauchen, gerade in schwierigen Zeiten wie heute, Orientierung im Leben. Daher blüht das Geschäft mit Ratgeber-Büchern, zu denen bekanntlich auch die Kochbücher gehören, während sich die Belletristik immer schlechter verkauft. Sie büsste in den letzten zehn Jahren zehn Prozent ihres Marktanteils ein, so dass sie heute weniger als ein Drittel der verkauften Titel ausmacht.

Während in der Epoche der klassischen Moderne, um ein viertes Merkmal der zeitgenössischen Literatur zu nennen, eine Literatur gefordert wurde, die im Sinne einer Innovationsästhetik mit den konventionellen Formen und Normen bricht, tritt diese Forderung seit dem Beginn der Postmoderne stark zurück. Was heisst das konkret? Das heisst nichts weiter, als dass heute von der literarischen Öffentlichkeit, vor allem von der Literaturkritik, so ziemlich alle Formen von Literatur toleriert werden. So erleben denn traditionelle Formen und Genres, die in der klassischen Moderne als unzeitgemäss verpönt waren, geradezu eine Renaissance. Im Roman darf wieder chronologisch, linear und auktorial erzählt werden, sofern der Autor seine Erzählweise, wie etwa Robert Schneider im Roman «Schlafes Bruder» oder Monika Maron im Wenderoman «Animal triste», immer wieder ironisierend infrage stellt. Und auch die Novelle, die wegen ihren strengen Formgesetzen in der Moderne als völlig antiquiert galt, feiert in der postmodernen Literatur mit ihrem erneuten Formbewusstsein geradezu ihre Auferstehung. Selbstverständlich erlebt daneben auch die moderne Kurzgeschichte mit ihrem offenen Bau seit Mitte der 1990er Jahre eine neue Blüte, und zwar vor allem unter dem Einfluss amerikanischer Vorbilder wie etwa Raymond Carver und Alice Munro. Sie tritt übrigens immer häufiger in der Form der Kürzestgeschichte, amerikanisch der «short short story», auf – einer Erzählform, die extrem verknappt ist und die von der Ambivalenz zwischen Andeutung und sprachlicher Präzision leben.

Nicht zuletzt kommen immer mehr Bücher auf den Markt, die weder Roman noch Novelle noch Erzählung sind, sondern vielmehr autobiografische Recherchen mit essayistischen Elementen, die also im Grunde genommen zu den Sachbüchern zählen. Das macht deutlich, dass sich die zeitgenössische Literatur zunehmend auch auf nichtfiktionale Texte hin öffnet. Dass Zora del Buono für ihre 2024 erschienene autobiografische Recherche «Seinetwegen», eine Vatersuche, den Schweizer Buchpreis erhalten hat, zeigt einmal mehr, wie sehr der Literaturbegriff in den letzten ungefähr vierzig Jahren erweitert worden ist. 

Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat für die neue Offenheit der Literatur, in der so ziemlich alle Formen möglich sind, den Begriff der «neuen Unübersichtlichkeit» geprägt und ihn als typisch postmodern bezeichnet. 

Geschätzte Anwesende, wenn dieser Begriff der «neuen Unübersichtlichkeit» für die zeitgenössische Literatur zutrifft, und er trifft zu, dann gilt er für die Lyrik in besonderem Masse. Hatte die Lyrik schon in ihrem traditionellen Kleid eine grosse Zahl verschiedener Formen, vom Volkslied bis zum Figurengedicht, hervorgebracht, so haben literarische Moderne und Postmoderne diesen Formenbestand noch deutlich erweitert. Der Literaturkritiker und Autor Kurt Drawert hat weitgehend recht, wenn er schreibt, die Emanzipation aller Möglichkeiten lyrischen Ausdrucks, das sei vielleicht das sicherste Kennzeichen moderner Gedichte. Denn in der Tat hat die literarische Moderne den Lyrikbegriff derart erweitert, dass wir von einigen lyrischen Formen nicht einmal mehr sagen können, ob sie noch zur Lyrik gehören oder nicht. Liebe Hörerinnen und Hörer, ich gebe Ihnen dazu ein Beispiel. Es ist ein Auszug aus dem 1995 erschienenen Gedicht «hochzeit» der ostdeutschen Autorin Kathrin Schmidt. Wenn Sie, liebe Lyrikfreunde, das Gedicht nur hören, werden Sie nur noch schwer entscheiden können, ob es sich um Lyrik oder doch eher um Erzählprosa handelt. Doch es ist Lyrik, wie Sie der Zeilenanordnung und vielleicht auch dem Sprachrhythmus entnehmen können. Damit also das Gedicht oder, besser gesagt, ein Auszug daraus:

liebe schwester dies ist kein beklemmender Brief aus

der schule der ohnmacht dies ist nur eine versteckte

aufforderung ein auto zu kaufen ein bisschen

buchsbaum und myrthe zu streuen und einen kleinen

hund neben dem sofa wohnen zu lassen auf keinen fall

ist dies ein aufruf zu begeisterter schwangerschaft

oder mütterlichen gefühlen […]

Die Verwischung der Grenzen zwischen den einzelnen literarischen Gattungen, wie sie in diesem Prosagedicht vorliegt, ist übrigens ein untrügliches Merkmal moderner und postmoderner, also zeitgenössischer Texte, gehört zu ihrer neuen Offenheit

Lassen Sie mich, verehrte Anwesende, noch ein paar allgemeine Bemerkungen zur Situation der zeitgenössischen Lyrik machen. Dank neuer Ausdrucksformen wie Spoken Word, also wie Rap und Slam Poetry, Texte, die für den Live-Auftritt auf der Bühne verfasst werden, hat die Lyrik in den letzten rund 25 Jahren eine kleine Renaissance erlebt und neue, vor allem jugendliche Publikumskreise erschlossen. Trotzdem sind die Bedingungen der Produktion und Verbreitung dieser Literaturgattung weiterhin unbefriedigend, ist die Lyrik im öffentlichen Bewusstsein nicht genügend verankert. Die Süddeutsche Zeitung publiziert jeweils vor der Leipziger Buchmesse, wie viele andere grosse Tageszeitungen auch, eine umfangreiche Literaturbeilage mit Besprechungen gerade erschienener Romane. Doch Lyrik: Fehlanzeige! Das ist mittlerweile der Normalfall, dessen Ursachen wir medienkritisch und selbstkritisch nachspüren sollten. Gerade in Zeiten einer fortwährenden Beschädigung unserer Sprache wäre es wichtig, das Instrument der Lyrik als verdichtete, konzentrierte Sprachform unter anderem durch Subventionen aus öffentlichen Mitteln vermehrt zu fördern. Es darf nicht sein, dass die Lyrik, eine der kreativsten und innovativsten künstlerischen Sparten, in Nischenverlage, Kostenzuschussverlage oder gar in Selbstverlage verbannt wird oder häufig unveröffentlicht in der Schublade vor sich hinschlummert, nur weil die renommierten Publikumsverlage sie mehr und mehr aus ihren Verlagsprogrammen entfernt haben. Ausser Suhrkamp druckt heute kaum mehr ein grösserer Verlag regelmässig zeitgenössische Lyrik. Und was Rap-Texte betrifft, so werden diese zwar hie und da zum Gegenstand des Literaturunterrichts in den Schulen, aber eine literaturkritisch ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen fehlt bis heute fast ganz.

Doch nicht nur die Kulturpolitik und mit ihr die Verlage und das Feuilleton sind gefordert, gefordert sind auch die Lyrikerinnen und Lyriker selber. Es werden noch viel zu viele mittelmässige oder gar schlechte Gedichte verfasst, weil man in der Meinung, es handle sich ja um eher kurze Texte, den Schwierigkeitsgrad von Gedichten häufig vollkommen unterschätzt. Was dann entsteht, sind jene Unmengen von Lyrikbändchen, in denen sich ein mittelmässiger Text an den anderen reiht. Und das Ergebnis: Sie werden kaum verkauft und noch weniger gelesen. Erträgt ein Roman gewisse Schwachstellen – und welcher Roman hätte die nicht –, ohne dass er damit als Ganzes ästhetisch schon missraten sein muss, so gilt das für die Lyrik keineswegs. Im Gegenteil: Ist in einem Gedicht ein einziges Bild falsch gewählt, so ist in der Regel das ganze Gedicht dahin. Oder etwas allgemeiner ausgedrückt: In der Lyrik ist, ganz im Gegensatz zur Novelle oder zum Roman, das Mittelmässige bereits schlecht. 

Liebe Lyrikfreunde, was bedeutet das konkret? Das bedeutet wohl, dass die zeitgenössische Lyrik, will sie innovativ sein, nicht mehr in einer naiven Harmonie verharren, sich genügsam und beschaulich geben darf, dass es vielmehr ihre Aufgabe ist, die Dissonanzen unserer Welt immer wieder sichtbar zu machen – sei es durch ein Aufbrechen der Reimstruktur, durch eine verstärkte Verwendung von Enjambements und Zäsuren oder durch Perspektivenwechsel und Montagen, durch die Technik des Zitierens und nicht zuletzt durch Verfremdungen traditioneller Formen, in denen die Brüche der Welt deutlich werden. Letztlich ist es das gute, wandlungsfähige Gedicht, das darüber entscheidet, ob die Lyrik weiterhin eine Nischensparte bleibt oder ob sie in zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie Schulen und Universitäten, aber auch in Verlagsprogrammen und im Feuilleton der Zeitungen verankert werden kann. So viel, meine Damen und Herren, zur Situation der zeitgenössischen Lyrik.

Die deutsche Literatur unterscheidet spätestens seit dem 18. Jahrhundert, seit Aufklärung und Klassik, anders als etwa die angelsächsische Literatur, zwischen sogenannt ‘hoher’ Dichtung einerseits und Unterhaltungs- und Trivialliteratur andererseits. Diese Unterscheidung gilt in der Postmoderne immer weniger, so dass wir viele zeitgenössische Romane, unter dem starken Einfluss nichtdeutscher Autoren, wie etwa Umberto Eco, sowohl als hohe Dichtung als auch als Unterhaltungsliteratur lesen können. So lässt sich Christian Krachts Debütroman «Faserland», um dafür nur ein Beispiel zu nennen, auf verschiedenen Ebenen lesen: als Reise- und Abenteuerroman, als Liebesroman, als Roman über exzessive Alkohol-, Drogen- und Sex-Partys und nicht zuletzt als Pop-Roman. Die Literaturwissenschaft hat für diesen Umstand, dass in zeitgenössischen Romanen ganz bewusst unterschiedliche Lesarten möglich sind, den Begriff «Mehrfachkodierung» geprägt – ein Begriff, der für die postmoderne Literatur, ähnlich wie der Begriff «Intertextualität», bezeichnend ist. 

Diese Mehrfachkodierung, von der ich eben gesprochen habe, geschätzte Anwesende, hat sich auch auf die Sprache der zeitgenössischen Literatur gewaltig ausgewirkt – und das vor allem in zweierlei Hinsicht: zum einen als Enttabuisierung der Sprache und zum andern als ein informelles, an die Mündlichkeit und häufig auch an den Dialekt angelehntes Schreiben. 

Beginnen wir mit dem zweiten Gesichtspunkt, mit der Angleichung der literarischen Sprache an die Mündlichkeit und an den Dialekt. 

Seit der Leipziger Literaturprofessor Johann Christian Gottsched im 18.Jahrhundert die Forderung nach einer reinen, klaren Literatursprache, einer einheitlichen Stillage erhoben hatte, galt diese Forderung in der ganzen bürgerlichen Dichtung bis weit in die Moderne hinein. Wenn der böhmische Dichter Adalbert Stifter in seinem Bildungsroman „Der Nachsommer“ von der ehelichen Liebe sagt, sie sei „innig ohne Selbstsucht, freue sich, mit dem Andern zusammen zu sein, seine Tage zu schmücken, sei zart und habe gleichsam keinen irdischen Ursprung an sich“, so klingt das höchst poetisch, von der alltäglichen Umgangssprache abgehoben.

Ganz anders, liebe Literaturfreunde, die Sprache vieler zeitgenössischer Romane. Illustriert sei dies an einem Textauszug aus dem Roman «Dinge, die wir heute sagten», für den Judith Zahnder im Herbst 2010 – man höre und staune – den Deutschen Buchpreis erhalten hat. Der Text lautet wie folgt:

Und nun haben wir zwei Autos und sind immer noch nicht zufrieden. Weil Friedhelm nun immer mit dem kleinen ollen Fiat zur Arbeit fahren muss, weil ich mit dem nicht klarkomm, ich bin eben so an den Opel gewöhnt, und dann lauert er, dass ich endlich komme und er mit dem Opel noch mal los kann, meistens bloss so durch die Gegend, zu einem Kanal, noch mal die Angel reinwerfen oder was weiss ich, weil er mit dem kleinen nicht rumfahren mag, wie seh ick denn aus dadrin», sagt er. Na ja, wirklich n bisschen reingequetscht.

Das ist, wie bereits angedeutet, eine ganz andere Sprache als die, der wir vorhin bei Adalbert Stifter begegnet sind. Das ist eine Sprache, die nicht mehr poetisch, von der Alltagssprache abgehoben sein will, die sich ganz im Gegenteil an unsere Umgangssprache, ja an mündliches Sprechen annähert bis hin zum redseligen Geplauder. Die Literaturkritikerin Iris Radisch hat nicht ganz Unrecht, wenn sie von einem «Plapperton» gesprochen und diesen als typisch für zahlreiche zeitgenössische Romane bezeichnet hat. Das bewusst Alltagssprachliche, dieses Erzählen in niedriger Flughöhe in neueren und neuesten Romanen soll offenbar Lebendigkeit nachstellen, den originalen Ton der realen Wirklichkeit wiedergeben – und hat häufig doch die genau gegenteilige Wirkung. Dessen hätte sich die Autorin bewusst sein müssen. 

Nun findet in der Sprache zeitgenössischer Romane nicht bloss eine Angleichung an die Mündlichkeit statt, sondern, wie ich bereits angetönt habe, auch an den Dialekt. Und dies nicht nur in Literaturlandschaften, deren Sprache stark mundartlich gefärbt ist, sondern im ganzen deutschen Sprachraum. Diese vermehrte Aufnahme mundartlicher Wendungen in die Literatursprache dürfte vor allem zwei Gründe haben: Zum einen findet sich mundartliches Schreiben nahe am mündlichen Sprechen, haben wir es also erneut mit einer Angleichung an die Mündlichkeit zu tun, und zum andern geht es darum, alles sprachlich scheinbar elitär Wirkende aus der Literatur möglichst zu verbannen, die Literatur so gleichsam zu demokratisieren. Zeigen wir das gleich an einem Beispiel. Es ist der Anfang des 2018 erschienenen Romans «Der letzte Schnee» von Arno Camenisch, einem Autor aus Graubünden. Der Roman spielt denn auch in den Bündner Bergen und erzählt vom Warten der Menschen auf den Schnee und von ihrer Befürchtung, dass es irgendwann der letzte sein könnte. Ein Thema, das wunderbar zur gegenwärtigen Klimadebatte passt. Nun aber der Textauszug:

Wir sind hier nicht im Tirol, sagt er, hier gibt es Regeln, und wer diese nicht einhält, trägt halt die Consequenzas, wie der andere Calöri vom letzten Jahr, der mitten auf der Piste sein Znünibrot auspackte und in einem Frieden sein Brötli ass, sowas geht doch nicht, man kann nicht die ganze Piste blockieren, nur weil man gerade farruct Lust auf sein Znüni hat, so haben wir ihm halt die Ohren waschen müssen in Gottsnama […] Das Regelwerk hängt ja schliesslich an der Hüttenwand, auf Romanisch und auf Tütsch, da muss uns niemand kommen und behaupten, wir seien Larifaris […], aber wer die Regeln halt nicht liest, oh ja, sez la cuolp, selber schuld.

Verehrte Anwesende, Sie haben die recht vielen Mundartausdrücke aus dem Bündnerdialekt sicher sofort bemerkt, ohne dass ich sie hier im Einzelnen aufzählen muss. Aber nicht nur auf der Ausdrucksebene haben wir es mit einer dialektal eingefärbten Sprache zu tun, sondern auch auf der Ebene der Syntax, also der grammatischen Beziehungen der Elemente im Satz. So heisst es hochsprachlich «in Tirol» und nicht «im Tirol», «Georg» und nicht «der Georg», stammt etwa die Wendung «in einem Frieden sein Brötli ass» aus der mundartlichen Rede. Nicht zuletzt sind da die rätoromanischen Entlehnungen «Consequenzas» und «sez la cuolp». Aus linguistischer Sicht handelt es sich dabei um ein Code-Switching, d. h. um einen Kodewechsel von einer Sprache in eine andere, hier also vom Deutschen ins Rätoromanische und wieder zurück ins Deutsche. Es ist ein Vorgang, dem wir im Hinblick auf unsere zunehmend multikulturelle Gesellschaft im postmodernen Roman, aber auch in der postmodernen Lyrik immer häufiger begegnen.

Annäherung an die Umgangssprache, mundartliche Einfärbung der Sprache: zwei grundlegende Tendenzen, verehrte Anwesende, in der zeitgenössischen Literatur. Eine dritte wichtige Tendenz betrifft den Bruch sprachlicher Tabus. Und zwar von Tabus im Sexual- und im Fäkalbereich. Um Ihre Geduld mit mir nicht allzu arg zu strapazieren, beschränke ich mich auf das Erstere, auf die Tabubrüche im Sexualbereich. 

Immer weniger Autorinnen und Autoren verzichten heute darauf, explizit über Sex zu schreiben, ob sie es können oder nicht. Cunnilingus, Fellatio und Analverkehr gehören längst zum Repertoire der gehobenen Romankonfektion. Sprachschöpferisch geschieht dabei meist so gut wie nichts. Das gilt für Sätze wie «Mir wird Scheisse in die Fresse gefeuert. Ich bin eine motherfucking unmoralisch handelnde Fotze» in Helene Hegemanns Romandebüt «Axolotl Roadkill». Und das gilt weitgehend auch für den Bestseller «Feuchtgebiete» von Charlotte Roche und vollends für «Fifty Shades of Grey» von Erika Leonard James. Dass diese pasteurisierten Tabubrüchlein allein mittels Druckerschwärze heute noch ein Millionenpublikum aus der Reserve locken können, wo wir doch im Internet mit ein paar Mausklicks jede Menge Pornografie vorfinden, bleibt mir ehrlicherweise ein Rätsel. Da lobe ich mir das 19. Jahrhundert, als drei Auslassungspunkte oder ein Gedankenstrich noch genügten, um den sexuellen Akt und in Heinrich von Kleists Novelle «Die Marquise von O» sogar eine Vergewaltigung anzudeuten, und als die Erzählung mit dem Morgen danach wieder anhob. Mit einer gewissen Wehmut erinnere ich mich, wie Hermann Hesse, nachmals Guru der Blumenkinder mit ihrem Traum von der freien Liebe, 1930 im Roman «Narziss und Goldmund» erotische Szenen zu gestalten versuchte. Als Gymnasiast las ich diese Stellen mit roten Ohren; erst später, während meines Germanistikstudiums, erschienen sie mir als der hilflose Kitsch, der sie immer schon waren.

Kitsch, vor allem in Form von Stilblüten, findet sich, geradezu haufenweise, auch in neueren und neuesten Romanen, die sich mit sexuellen Themen befassen. Ich gebe Ihnen dazu gerne drei kurze Beispiele. Die ersten beiden Beispiele entstammen dem 2019 erschienenen Roman «Vor der Flut» der deutschen Autorin Corinna T. Sievers, die 2018 am Ingeborg-Bachmann-Preis teilgenommen hat. Wir lesen da Sätze wie die folgenden beiden: «Ich will Kaisers Geschlecht, meine Zunge darum schlingen, den letzten Tropfen aus ihm saugen» oder «Eric soll es mir besorgen, bis mein Gehirn erweicht, bis ich Gemüse bin». Noch peinlicher wirkt es, wenn sich Autoren bei der Darstellung sexueller Handlungen sprachlich salopp geben wollen. In dem 2010 erschienenen Roman „Sommerlügen“ von Bernhard Schlink tönt das dann so: „Es klappte schon beim ersten Mal; er kam nicht zu früh und sie kam auch, und bis zum Morgen gab er ihr, was ein Mann einer Frau geben kann.“ Die drei Beispiele sollen genügen; schliesslich will ich Ihre gute Moral nicht unnötig der Gefahr aussetzen.

Hinter den sprachlichen Tabubrüchen steckt häufig die Absicht der Autorinnen und Autoren, im Sinne eines „neuen Realismus“ Kunst und Leben zusammenzubringen, ein möglichst wahres Bild der menschlichen Natur zu entwerfen, zu der auch der Bereich der Intimsphäre gehört. Dazu zählt auch die Enttabuisierung von Themen, wie etwa das des sexuellen Missbrauchs eines Kindes bei den Deutschen Bodo Kirchhoff und Josef Haslinger und bei den beiden Schweizerinnen Katja Brunner und Sibylle Berg oder von sexualisierter Gewalt bzw. Vergewaltigung wie im 2018 erschienenen Debütroman «Nichts, was uns passiert» von Bettina Wilpert oder im 2022 erschienenen, typisch postmodernen Roman «Die Dinge beim Namen» von Rebekka Salm, von Themen also, die bis anhin literarisch völlig tabu waren. Enttabuisierung wird so, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der weltweiten MeToo-Bewegung, zu einem bedeutenden Trend in der zeitgenössischen Literatur. Moralisch zu werten ist das grundsätzlich nicht. Bedenklich wird diese Enttabuisierung erst dann, wenn sie Selbstzweck ist, wenn sie als reiner Köder benutzt wird, um neue Leser für ein Werk zu interessieren. Und das ist heute, wenn ich recht sehe, aus Gründen des Marketings leider immer öfter der Fall.

Geschätzte Hörerinnen und Hörer, ich komme zum Schluss. In meinem Vortrag ging es mir darum, Ihnen den seit Mitte der 1990er Jahre in Erzählprosa und Lyrik eingetretenen Klimawandel etwas näher zu bringen. Dieser Klimawandel, der zu einer neuen Offenheit in der Literatur geführt hat, ist das Produkt einer zunehmend offenen, sich immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaft, in der es keine für jedermann verbindlichen Standpunkte mehr gibt, in der Wahrheit vielmehr als das Ergebnis eines Wettstreits der Thesen und Gegenthesen, Ansichten und Überzeugungen der verschiedenen Exponenten erscheint. Das ist im besten Sinne postmodernes Denken. 

Bei all dem ist mir bewusst, dass ich in meinem Vortrag vieles über zeitgenössische Literatur, das auch noch wichtig wäre, aus Zeitgründen nicht behandeln konnte. So konnte ich auf neue Genres, wie Pop- und Beatliteratur, auf die Spoken Word-Poetry, also auf Rap und Slam Poetry, auf die Migrationsliteratur zweisprachiger Autorinnen und Autoren und auf die verschiedenen Formen der digitalen Literatur, die als E-Books auf Tablets, iPhones, E-Readern oder Computern überall verfügbar ist, fast mit keinem Wort eingehen. Das Gleiche gilt für die weitgestreute Literaturförderung vor allem für junge Autorinnen und Autoren, das dazu führt, dass literarisches Schreiben zunehmend zu einem subventionierten Akt wird. 

Seit Mitte der neunziger Jahre – ich sagte es bereits – ist die Atmosphäre offener, ja lockerer geworden für eine postmoderne Literatur, deren Qualitäten auch bei der Literaturkritik zunehmend auf Gegenliebe stossen. Das darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass letztlich nur ein Erzählen, ein lyrisches Schaffen, das die Errungenschaften der literarischen Moderne mit einbezieht, die Voraussetzung dafür bildet, dass ein Werk nicht nur ein kurzzeitiger Saisonerfolg bleibt, sondern dauerhafte Wirkung entfaltet. Sorgen wir Autoren, Literaturkritiker, Verleger und Leser dafür, dass nicht zunehmend literarische Werke auf den Markt kommen, die immer musterschülerhafter, öder und austauschbarer sind. 

Ich möchte meinen Vortrag nicht schliessen, ohne Ihnen allen eines in Erinnerung zu rufen: Die Literatur lebt von der Innovation, vom Reiz, konventionell festgelegte Kodes, Erwartungshaltungen der Leser immer wieder zu durchbrechen. Das freilich erfordert Mut. Wer diesen Mut nicht hat, der soll Buchhalter oder Steuerberater werden, aber nicht Schriftsteller, meinte schon der 2013 verstorbene, streitbare Marcel Reich-Ranicki, von dem heute schon einmal die Rede war. Geschätzte Hörerinnen und Hörer, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Mario Andreotti, Prof. Dr., geboren 1947, ist Literaturwissenschaftler und war unter anderem als Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen tätig. Er wirkt heute noch als Fachreferent in der Fortbildung der Lehrkräfte an höheren Schulen und leitet Literaturseminare. Daneben ist er Mitglied der Jury für den Bodensee-Literaturpreis und Sachbuchautor. Von ihm erschien im Haupt Verlag Bern unter anderem der UTB Band Die Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens, der längst als Standardwerk der literarischen Moderne gilt und 2022 bereits in 6., stark erweiterter und aktualisierter Auflage vorliegt.

Birkenweg 1, 9034 Eggersriet

mario.andreotti@bluewin.ch