
Eine Botschaft der Nacht
Von Dolores Linggi
Als ich heute Morgen in den vollbesetzten Zug steigen will, spür ich die Nacht hinter mir, heftig atmend und haltlos.
hab ich was
vergessen? frag ich sie schweigend.
oder wie begründest du sonst,
dass du mir in den Tag folgst?
noch dazu im schönsten Samtkleid,
dunkelblau. nachtschwarz,
so weichgezeichnet
als wäre es aus Puderpigment,
mit einer sogartigen Tiefe.
die Nacht schweigt.
im Zug setze ich mich zwischen stille Blicke
und schweigende Lippen.
meine, die Nacht wird schon gehen,
zurück in meinen Traum,
oder ist es umgekehrt?
noch drängt der letzte Hauch von innen
gegen meine Augenlider.
und plötzlich weiss ich nicht mehr,
ob Licht immer angebracht ist.
weisst du, was dieser Traum in den Tag bringen wird?
was, wenn es jene Ungeheuerlichkeiten sind,
die besser unausgesprochen bleiben,
im Schutz der Nacht.
bewahrt und geborgen
und versteckt.
Vogelgespräche
auf Persisch
Von Otto Höschle

Unser Mitglied legt eine Übersetzung eines Epos des persischen Dichters Farid ad-Din ‚Attar vor. Eine Reise zur Selbsterkenntnis.
Die Vögel der Welt versammeln sich, um einen König zu erküren. Der klügste und erfahrenste von allen, der Wiedehopf, rät ihnen, den geheimnisvollen Vogel Sîmorgh aufzusuchen und zum König zu ernennen. Er wohnt im mystischen Qâf-Gebirge und verkörpert jene Vollkommenheit, die von einem König erwartet wird. Doch der Wiedehopf macht ihnen klar, dass die Reise zu ihm mit unermesslichen Gefahren, Entbehrungen und Leiden verbunden sein wird. Ein Vogel nach dem andern bringt seine Bedenken und Ängste vor, und der Wiedehopf entlarvt sie als Ausreden, als Zeichen von Trägheit und Schwäche, als Mangel an wahrem Willen, zum Sîmorgh zu reisen und Glück und Vollendung finden. Viele jener Vögel, die trotzdem den Mut aufbringen, die Pilgerschaft anzutreten, werden in den sieben Tälern, die es zu durchqueren gilt, entmutigt oder dahingerafft, so dass schließlich nur dreißig Vögel zum Sîmorgh gelangen. «Sî morgh» aber heisst auf persisch «dreissig Vögel»: Am Ziel angekommen, erblicken die Vögel sich selbst. Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis: Nur wer all seine Schwächen und Ängste überwindet, das alte Selbst ablegt und die beschwerliche Reise bis ans Ende bewältigt, vermag sich und Gott zu erkennen und eins zu werden mit der Wahrheit.
Der arabische Titel des persischen Epos – «Mantiq at-Tair» – ist ein Zitat aus dem Koran: «Und Salomo beerbte David. Er sprach: ‹Ihr Menschen! Der Vögel Sprache wurde uns gelehrt!›» (27:16). Mantiq ist zugleich die Sprache wie auch das Gespräch, wobei Letzteres dem Werk gerechter wird, diesem Dialog zwischen dem Wiedehopf als Wegweiser und den zögernden Vögeln. Der Wiedehopf ist es im Koran denn auch, mit dem Salomo spricht und der ihm als Bote zur Königin von Saba dient. Bei ‚Attar ist er zugleich der Seelenführer hin zum Ersehnten, dem Sîmurgh, einem in vorislamische Zeit zurück reichenden Sagenvogel, vergleichbar mit dem legendären Phoenix der spätantiken und mittelalterlichen Tierbücher, einem Vogel also, der stets nur in einem Exemplar vorkommt und somit für das Eins- und Einzigsein («tauhîd») Gottes steht.
‚Attars Epos verbindet koranische mit altpersischen Motiven zu einem stimmigen Ganzen und erschafft so einen neuen Höhepunkt in der Gattung des epischen Lehrgedichts. Mit einer durch Glaubens- und Fabelwelten inspirierten Geschichte den Menschen den rechten Weg zu weisen, ist die Absicht des Werks. Es ist der sufische Weg zum höchsten Sinn, zum Göttlichen, mit dem es sich am Ende zu vereinen gilt. Das aber ist nur unter großen Leiden möglich und verlangt schließlich gar die Selbstaufgabe, die Bereitschaft, der Diesseitswelt zu sterben und gänzlich in der Jenseitswelt aufzugehen. Die Stringenz, mit der ‚Attar dabei ans Werk geht, erreichten weder sein Vorgänger Sana’î von Ghazna (1080–1157) noch sein Nachfolger Rûmî (1207–1273). Auch sie wählten die Form des Masnawî (des gereimten Doppelverses) und der Epos Rûmîs übertrifft die Vogelgespräche gar um ein Vielfaches an Versen, aber die verspielte, frei assoziierende und in sich uneinheitliche Form von Rûmîs «Masnawî-ye-Ma’nawî» («Doppelverse des Sinns») entbehrt bei aller poetischen Kraft und Raffinesse den klaren Handlungsverlauf des ‚Attarschen Lehrgedichts. Was alle sufischen Lehrgedichte hingegen verbindet, ist die Vielzahl an eingeschobenen Erzählungen und Gleichnissen, durch welche die spirituelle Absicht des jeweiligen Kapitels exemplarisch veranschaulicht wird. All diese Geschichten und Legenden aus dem Koran, aus dem Leben der Sufiheiligen, der Gottesnarren und sinnlos Verliebten ersparen dem Publikum eine allzu trockene Belehrung und helfen ihm auf gleichnishaft unterhaltsame Weise, den Weg zu finden hinaus aus dem durch Triebe, Besitztum, Dünkel und Sünde verblendeten Diesseits. Im Jenseits, dem undefinierbaren Dort, wird auch der letzte Rest an Verblendung entschwunden und die illusionäre Schale des Selbst abgeworfen sein. Es bleibt der Wesenskern, und der wird eins mit dem Göttlichen. Dies den Suchenden auf Tausenden von Arten klarzumachen, ist seit ja die Aufgabe des Sufi-Scheichs, sei es mit den Mitteln der Predigt und des Traktats – oder aber mittels Poesie, vom Vierzeiler über das Ghazel bis hin zum belehrenden Epos.
Farîd ad-Dîn ‚Attar lebte von 1126 bis 1220 n. Chr. im nordostiranischen Nîschâpûr, in Chorassân also, einer kulturell besonders bedeutsamen Region, die auch Gebiete des heutigen Afghanistans und Turkmenistans umfasst. Von seinem Leben wissen wir wenig; er war nicht, wie etwa Rûmî, ein gefeierter Gelehrter, sein Beiname ‚Attar kennzeichnet ihn als Parfümhersteller, Drogisten und Apotheker, er ging also, wie viele Sufischeichs, einem handwerklichen Beruf nach. Düfte und Arzneien aber spielen in der Metaphorik der Sufis eine wichtige Rolle: Die göttliche Liebe trägt dem geneigten Gottsucher ihren Duft zu – und alle Wegweiser hin zu Gott sind Arznei für die Seele des Suchenden. Gemäß Legende starb ‚Attar im Mongolenüberfall, der im 13. Jahrhundert weite Teile des mittleren Ostens überzog. Eine volkstümliche Anekdote aus seinem Leben ist seine Begegnung mit dem späteren Sufimeister und Dichter Rûmî im Kindesalter, dann nämlich, als dessen Familie aus Balch im heutigen Afghanistan nach Westen floh und in Nîschâpûr dem Scheich einen Besuch abstattete. Rûmî jedenfalls ließ sich von den Werken des Drogisten inspirieren, trotz allen oben genannten Unterschieden.
Dass ‚Attars dichterisches Gesamtwerk, das ungleich breiter ist als jenes Rûmîs, die sufischen Lehren mit vielen Anekdoten und Gleichnissen «würzte», entspricht freilich einer allgemeinen Tendenz persisch-arabischen Erzählens, von dem im Westen vor allem die Geschichten aus «Tausendundeiner Nacht» berühmt sind. Erwähnt sei hier von ‚Attars Werk, zu dem auch sufische Lyrik (Ghazelen etc.) gehört, eines seiner weiteren Lehrgedichte: «Das Buch der Leiden». In diesem zieht sich eine an Dante erinnernde Geschichte durch den ganzen Text, die mystische Seelenreise eines Sufi-Schülers, der an vierzig Stationen nach der Erlösung aus dem Leiden sucht, im Himmel, in der Hölle, bei den Engeln, Dschinnen und Menschen und sämtlichen wichtigen Propheten. Alle, selbst die Himmelsbewohner, malen ein finsteres Bild von ihrer Wirklichkeit, bis schließlich Mohammed den Rat gibt, nicht in der Welt, sondern in sich selbst zu suchen, um so im «Meer der Seele» zu versinken und mit Gott eins zu werden. Ähnlich pessimistisch wird die Diesseitswelt auch in den «Vogelgesprächen» samt den zahlreichen eingestreuten Erzählungen beschrieben. ‚Attars Weltsicht ist somit wohl die konsequenteste Mystik überhaupt: Im Hier und Jetzt gibt es ebenso wenig Erlösung wie in Himmel und Hölle – die einzige Erlösung ist in der Versenkung zu finden, im Eintauchen der Einzelseele in die große Weltseele, was den Suchenden allerdings nicht leicht gemacht wird. Dieses Geworfensein in eine trost- und illusionslose Welt voll unerfüllter Sehnsucht erinnert an die Weltsicht der Existenzialisten, vor allem da, wo die Furcht vor der Hölle und die Hoffnung auf das im Koran beschriebene Paradies als weitere Illusion entlarvt werden. Wo die einzig wahre Erlösung harrt, gibt es weder Ort noch Zeit, nicht Ich noch Du. Jeder Rest des eigenen Selbst, der noch nicht abgeworfen wurde, hindert am befreienden letzten Schritt in den Nichtort, die Nichtzeit, das Nichtich, ins Einssein mit der Weltseele, modern gesagt: in die Singularität jenes «schwarzen Lochs», aus dem alles hervorgeht und in das alles zurückkehrt.
‚Attars «Vogelgespräche», dieses für den Sufismus wie die persische Dichtung so wichtige Werk, endlich mit einer integralen und zugleich poetischen Übersetzung ins Deutsche zu würdigen, ist mein Anliegen gewesen. Obwohl die persische Form des Masnawî gereimte Doppelverse aufweist, habe ich mich (wie bereits für meine Übersetzung von Rûmîs Masnawî) für den Blankvers entschieden, dieses in deutscher wie englischer Dichtung so bewährte reimlose, fünffüßige Jamben-Metrum. Ist in gewisser Hinsicht jede Übersetzung, vor allem eines poetischen Texts, eine Verfälschung, so ist es das gereimte Übersetzen erst recht. In viel höherem Maße als im rein rhythmisch geprägten Blankvers muss sich der Reimvers den Zufällen, ja der «Willkür» des Wortschatzes fügen und gängelt so den Übersetzer bei seinem Vorhaben, dem Original möglichst gerecht zu werden. Andererseits scheint mir die Prosaübersetzung dem Original nicht angemessen zu sein, wenn auch auf andere Weise. Das Nachvollziehen des poetischen Duktus eines Texts kann zwar nie die Schönheit des Originals ersetzen – doch diese kann zumindest erahnt werden und jene Leserinnen und Leser ansprechen, denen außer dem bloßen Inhalt auch die sprachliche Form am Herzen liegt.
Der vorliegende Text ist das Vorwort der Übersetzung. Das Buch kann unter hier bezogen werden.
Plädoyer
– also en angaschierti Befüürwortig.
För Mondart.
Of Mondart
Von André Schürmann
Mondart esch öberau – au i de Enner-Schwiiz.
Les emou de Gotthäuf.
Los emou de Gotthäuf.
Les ond los emou de Eggimaa ond de Marti.
Ond de Krneta ond de Schterchi.
Los emou de Matter, de Meischter, de Burren ond de Bechsu.
Ond los emou de Hohler. Joo, los emou de Hohler.
Ond los emou d Grob ond de Lenz.
Fasch aui us Bärn.
Ond los emou de Dillier, de Lienert, d Lüütenegger, de Cuonz ond de Raeber.
Ond emou de Ott ond de Danioth.
Ond emou d Gasser, de Buecher ond de Federer.
Aui vom ISSV: us de Ennerschwiiz, för d Ennerschwiiz.
Los emou Radio, d Schnabuweid zom Bischpel.
D Mondart esch öberau – rede we eim de Schnabu gwachse esch.
Sprache ist nicht nur Wurzel und Heimat, sie schafft und ist Identität.
D Mondart esch ned nor in Bärn prächtig am Schpriesse, sondern au i de Ennerschwiiz. Deet esch nämlech au de ISSV. Ond de Verlag de gsond Mönscheversand. Ond d Loge. Ganz vöu Mondart i de Ennerschwiiz, mo mou.
Schtouz esch velecht ned s rechtige Wort. Aber of jede Fau söttid mer Freud haa a üsere Schproch, si bruuche, fiire, is Buech ond ofd Böni brenge. Uusranschierti Wörter pflege, si üsne Chend säge, met ne läbe. Es esch äbe scho neds Gliich: Mondart esch mini Mueterschprooch oder ämu mini erscht Schprooch, ned öppe Hoochdütsch. D Mondart esch tüüf verworzlet i üüs, macht üüs zo was mer send. Si esch Gschecht, Lüüt ond Landschaft. Si beiiflosst üses Dänke – ond warschiinlech au omgekehrt. SI esch üüs ond mer send sii.
In einer Zeit, die uns abhanden zu kommen scheint, braucht es eine Sprache, die authentisch ist.
De Beat Schterchi meint: Die Standardsprache ist uns Fremdsprache.
Mer söuid di möndlech Schwiizer Schprooch aus eigeni Schprooch entdecke ond met ere säubschtbewosst omgoh. Bem Schriibe, bem Läse ond bem Rede. Seid ned eifach eine, sondern de Sterchi höchschtpersöönlech. Mo mou.
Mondart esch Heimatliebi ond verbreitet sech, wöu si för vöu Lüüt di diräktischt Art esch sech uuszdröcke, sech z össere ond z angaschiere. Es bruucht Mönsche, wo sägid, was si dänkid. Bsonders in ere Ziit, wo so vöu Mescht ond Fake News verbreitet werd. In ere Ziit, wo Influenzer:inne üsne Chend sägid, was si söuid dänke ond aalegge. Vor auem aalegge. In ere Ziit wo es ganzes Heer vo aute wiisse, misanthropische Galöri d Demokratie met Füess trätid ond ned nor das: Autokrate-Götter, wo nüüd förs Vouk, deför aues för sech säuber meschlid. Gruusig. In ere Ziit wo a vöune Ort Hass ond Ondernou Solidarität regierid. In ere Ziit, wo Randgroppe ganz am Rand schtönd.
Oni Mondart wärid Wörter we rüüdig, hässig oder rompusorig non-exischtänt, sorry, nei tschoudigong: ned ome, onuusgschprochene Karsompu. Nüüd, wo üüs chönnt versuume. Was miech emer de de ganz Tag? Gschmuuch chönds eim wärde, mou.
Mini Mondart, dini Mondart, üsi Mondart. Esch es eso eifach we Gschwöuti oder Chatzehagu?
Wem er sech drof iilood, scho.
Los emou d Elsässer, d Stadlin, d Clavadetscher. Los emou de Hürlimaa, de Haller, de Messmer. De Bossard, de Möuer-Drossaart, de Huwyler, joo les emou de Huwyler.
Aui vom ISSV: us de Ennerschwiiz, för d Ennerschwiiz – rede we eim de Schnabu gwachse esch.
Den Urklang eines Dialektes erhören,
ihn sprechen, schreiben, bewahren.
Emmer meh Autor:inne schriebid i erere Mondart.
D Schprooch esch dänk Identität, mer ghörid ond schnuufid si ii set mer of dere Schiibe send.
Wäge dem: öppis wooge, experimentiere, lokali Idiom bewahre. Esch doch ganz liecht. Aber, ech wott nüüd gseid haa gäge Schtandardschprooch, esch au guet. Bruuche mer jo au mängisch, demet mer üüs aui verschtönd, i de Schwiiz.
Es wäär cool, tschoudigong, grandig, wenn no meh i üsere Schprooch gschrebe wörd. Mer hend wonderbari Mondarte met emene riisige Erb, mosch nor emol bem ISSV go schtöbere. Oder of Bärn ufe oder abe blenzle, id Oschtschwiiz hendere oder vöre, jo eigentlech öberau hee. Me moss si ghöre we si töönt, hallt, chräblet ond schallt.
Los ruig emou d Wandeler Deck, de van Orsouw, de Wiigartner, d Imbode, de Ite ond de Vo Matt; aui vom ISSV: us de Ennerschwiiz, för d Ennerschwiiz.
Momol, das wäre toll – ein Mundartfestival.
Mit all den genannten Gästen, es bitzli schtöbere bim ISSV.
Gopf, emou es paar vo dene of de gliiche Böni, das wärs. Es Mondart-Feschtival. Weisch wie.
Emene Chrüsimüsi vo verschednegschte Schwiizer Mondarte schnöigge.
Das wär doch öppis. Das wär böimig. Das wär gmögig. Mou. Mer mos si ghööre, d Mondart, sech drof iiloo. Mo mou.
D Mondart esch öberau au i de Ennerschwiiz. Geschter, hött ond morn.
Und dazwischen ein Ozean
Von Martina Meienberg

Die Zuger Autorin Martina Meienberg erzählt in ihrem Debütroman von zwei Schwestern auf Schiffsreise. Zwei Ungleiche begegnen sich und sollen ein Auskommen finden. Ein gekürzter Auszug aus dem Roman.
Einzelne dunkle Wolken hingen am Himmel, als ich vor der Ausfahrt über die Außentreppe bis zum obersten Deck stieg. Gabriela saß mit schwarzer Wollmütze und Kapuzenmantel auf einem Liegestuhl und winkte mich herbei, als sie mich zwischen den an Deck strömenden Passagieren entdeckte. Sie deutete auf den freien Stuhl neben sich. Die Arme hatte sie um die angewinkelten Beine geschlungen. Vor ihr lagen einzelne Teile der Zeitung durcheinander, darauf standen drei leere Kaffeetassen. Mein Blick fiel auf die karierten Absatzschuhe, die mir schon bei ihrer Ankunft aufgefallen waren. Gabriela hatte sie vor den Liegestuhl gestellt. So konnte ich sie aus der Nähe betrachten und sah, dass die schwarzen Kugeln über dem Rist aus lauter feinen Stacheln bestanden.
»Igel?«, fragte ich.
»Arbacia lixula da Caruso.«
»Von Paolo also.«
»Schwarzer Seeigel. Aber keine Sorge, diese Stacheln sind weich.« Sie griff nach einem der Schuhe und fuhr mit der Hand darüber.
»Ist dein Schuhmacher unter die Meeresbiologen gegangen? Sind auch Haifisch-Modelle im Angebot?«, fragte ich.
»Sein Geschäft ist bereits verkauft. Paolo verlässt Hamburg. Er kommt in die Schweiz und will sich bei mir in Beckenried niederlassen.«
»Er gibt für dich tatsächlich seine Goldgrube auf?«
»Seit Lea … Er verträgt den Kontakt mit seiner anspruchsvollen Kundschaft nicht mehr. Er will nur noch nähen und mit seinen Schuhen allein sein.«
»Davonlaufen, wenn es schwierig wird. Kein Wunder, versteht ihr
euch so gut.«
Gabriela ließ meine Provokation ins Leere laufen. Nicht zum ersten Mal. Als ich sie vor langer Zeit fragte, was ein Italiener im Norden suche, weil ich herausfinden wollte, was es mit der Beziehung zwischen ihr und Paolo auf sich hat, sagte sie: »Er ist seiner großen Liebe nach Lübeck gefolgt.«
»Aber dann hat er dich kennengelernt.«
Ohne auf meine Bemerkung einzugehen, erzählte sie mir vom Hausbrand und dass Paolo als Einziger vor den Flammen gerettet werden konnte, weil er im Keller gearbeitet hatte. Nach dem Unglück habe er es in Lübeck nicht mehr ausgehalten, zog nach Hamburg und stürzte sich in die Arbeit – nähte gegen die Trauer an.
»Unglück und Liebeskummer machen kreativ«, sagte Gabriela schließlich.
Gabriela richtete sich im Liegestuhl auf und schlüpfte in ihre Seeigel-Schuhe: »Ich bin froh, Paolo bald wieder in meiner Nähe zu wissen. Seit ich in der Schweiz bin, vermisse ich ihn sehr. Und seit Leas Tod …« Ihre Stimme versagte. Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber ich konnte nicht. Ich berührte die schwarzen Stacheln ihrer Schuhe und war überrascht, wie geschmeidig sie waren, obwohl ich um ihre Künstlichkeit wusste.
Wie viele Schuhe hatte Paolo für Gabriela wohl genäht? Und für Lea erst? Es waren so viele, dass ich für Lea bald einen eigenen Schuhschrank kaufen musste. Ein Kindergartenkind mit eigenem Schuhschrank, man stelle sich das vor!
»Soll sie etwa damit im Sandkasten spielen?«, fragte ich Gabriela, als sie ihr weiße Sommerschuhe aus edelstem Leder überreichte. Aber meine Schwester meinte gelassen: »Lea
ist das Enkelkind, das Paolo nicht hat – also lass ihm doch die Freude.«
Gabriela war aufgestanden und an die Reling getreten. Sie warf einen Blick aufs Hafengelände.
»Ob Paolo wohl schon da ist? Er wollte uns zuwinken«, sagte sie.
Gabriela lächelte und erzählte dann, wie Lea Paolo davon überzeugte, dass Moritz für den Besuch bei ihr im Kindergarten Schuhe brauche. Lea habe gleich zwei Paar bestellt: zwei kleine Schuhe für die Hinter- und zwei noch kleinere für die Vorderfüße. Als Paolo bei Moritz habe Maß nehmen wollen, sei er zum Entsetzen einer Kundin quer durch den Laden gerannt. Ob er denn jetzt hier Meerschweinchen halte, habe diese wissen wollen, worauf Paolo erwiderte, die südamerikanischen Nager hätten eben ein Faible für italienische Luxusmarken. Seine Schlangen seien im Untergeschoss, die bräuchten ja keine Schuhe.
Darauf habe die Kundin den Laden wortlos verlassen.
Martina Meienbergs Roman «Und dazwischen ein Ozean» ist bei edition bücherlese erschienen (https://buecherlese.ch/shops/420/36/0/belletristik/und-dazwischen-ein-ozean).
Nachruf auf Max Huwyler
Adrian Hürlimann

Adrian Hürlimanns persönliche Worte an die Familie des Schriftstellers Max Huwyler (1931–2023).
Eine Hommage an einen wortstarken, geliebten Zeitgenossen – eine tragende Säule im Kulturleben der Innerschweiz.
Liebe Familie Huwyler,
als wir Max im November im Burgbachkeller begrüssten und feierten, genauer: sein letztes Gedichtbändchen vorstellten, fühlten wir den Appell von unser aller Dasein, dass es vielleicht das letzte Mal sein würde, da er das jüngste seiner Werke vorstellte, vorstellen liess, die Zeilen sprachen an seiner Stelle, auch ich las einige der treffenden, immer mit Witz befreiendes Gelächter auslösenden Verse, darunter auch die umwerfende poetische Skizze der eingeschmolzenen Titangelenke, als deren Resultat – als Schiffsschraube folglich – er dereinst durch die Weltmeere zirbeln würde.
Von diesem Zirbeln war er bereits vor rund vierzig Jahren erfüllt, als er mir seine Zweifel kundtat, ob er in seinem fortgeschrittenen Alter noch als Schreibender auftreten könne. Damals hatte er längst seinen Ruf als leuchtender Stern am Himmel der Mundart etabliert. Von seiner «Sprache der Nähe» hatte sein Kollege im Geiste Jürg Schubiger gesprochen, von «wohltuender Nüchternheit», gerichtet gegen Engherzigkeit und -stirnigkeit, leicht, aber niemals oberflächlich oder pseudotiefsinnig gehalten. In Zitaten gab er oft die Sprüche der Zeitgenossen wieder, in Kurzprosa und Gedichten, zunehmend auch in Hochdeutsch verfasst. Die Kritik an den zugerischen Verhältnissen hinterliess nachhaltige Spuren. Sie fiel umso ätzender aus, als die Kürze der Zeilen mehrfach auf die Pointe zielte und ins Schwarze traf. «De Bode isch Trumpf», so kanzelte er den Zuger Jass ab, spruchreif, und wurde alsbald von der Politik zitiert.
Max hatte stets mehrere Eisen im Feuer. Er blickte mitunter auf seine Theaterexperimente mit seinen Schülern in Opfikon zurück, unternommen in den dortigen 24 Jahren, und sah, dass es gut war. Das genügte ihm allerdings nicht. Er übersetzte Stücke und schreckte dabei vor Grössen wie Elias Canetti nicht zurück, den er seine Arbeit am Dialekt absegnen liess. Hörspiele gab es auch. Und seine weiterhin zentrale literarische Produktion und Publikation nahm von Band zu Band erst richtig Fahrt auf. Was er gleichzeitig an Wagemut und Vermittlung leistete, wurde mir erst so richtig klar, als er mich in die Literarische aufnahm, wo wir unverdrossen und kühn die allerbesten Autoren und Autorinnen der Deutschschweiz nach Zug einluden und die hiesige Szene gewaltig in Schwung brachten. 22 Jahre war er dabei, 13 Jahre als Präsident. Dazu lud er uns immer wieder ein an die Langensandstrasse in Hünenberg, wo er und Monika uns liebevoll verköstigten und das Vereinsleben und die notwendigen Sitzungen in ungewohnt erfreuliche Bahnen lenkten. Das Niveau unserer Geselligkeit war damit ein für allemal gesetzt.
Nach dem Umzug in die Grafenau, der ihm 24 Jahre lang vorgeschwebt hatte, feierte er, nun urban und studiomässig eingerichtet und mit Absicht am Bahnhof domiziliert, die Rückkehr ins Städtchen der Herkunft und überraschte uns fortan mit immer neuen und mutigen Expeditionen in ungewohnte Formate und Domänen. Plötzlich war er Kinderbuchautor, an die pädagogische Herkunft erinnert, an sein erfolgreiches Einführungswerk in die deutsche Sprache, und er suchte und hievte dazu die tollsten Illustratorinnen an Bord. Er ging für einmal vom Bild aus und konstruierte die Zeilen wie erklärende Bild-Untertitel hinein, als Wortspiele und Handlungsanweisungen; ein neuer Morgenstern ging auf, und sogleich schwebte ihm ein Kinderbuchfestival für die Stadt vor, das alsbald ganz anders, verwässert und für ihn enttäuschend realisiert wurde. Unverdrossen wartete er mit Vorstössen in die Welt der Kunst auf, liess den ISSV-Kollegen Niklaus Lenherr weisse Fahnen in die Landschaft stellen und mit seinen nochmals komprimierten Versen bedruckt im Winde wehen.
Überhaupt wirkte er im Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein aktiv und inspirierend mit und trug an den Lesungen und Tagungen mit erfreulich unterhaltenden Zwischenspielen zur guten Laune bei. Er unterhielt die wichtigen Kontakte zu seinen schreibenden Vorgängern und Kollegen hierzulande, die uns allen im Verein nützlich waren. Unter der Ägide von Andreas Iten, später von Daniel Annen, war er von den Festivals Höhenflug und den Rigi-Literaturtagen nicht mehr wegzudenken. In bester Erinnerung sind mir die immer wieder in Wort und Ton gewagten Bühnenarbeiten mit Hans Hassler, der die Texte mit seinem Akkordeon kongenial in unerhörte Höhen entschweben liess.
An der vorletzten Lesung in der Literarischen lobte er mich mit der Feststellung, ich wüsste ja besser Bescheid über seine Inhalte und Schreiberfahrungen als er selber – dabei hatte ich nur die Erklärungen wiedergegeben, die er mir im Vorgespräch zuhause anvertraut hatte. Die Sympathie war offenbar gegenseitig.
Max war eine tragende Säule des Zuger Kulturlebens. Sein Wirken und Schaffen hinterlässt seine Spuren in der ganzen Innerschweiz.
Wir, die ihn gekannt und erlebt haben, sind ihm für immer zu grossem Dank verpflichtet!
Möge er zufrieden und entspannt als edelmetallige Schiffsschraube durch die Ozeane zirbeln!
Auch im Namen der Literarischen Gesellschaft Zug und des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins ISSV
Adrian Hürlimann
«Die Beichte
ist das raffinierteste Marketinginstrument, das je erfunden wurde»
Von Herbert Fischer

Der Schriftsteller, frühere FDP-Politiker und Alt-Präsident des ISSV Andreas Iten (*1936) hat ein neues Buch veröffentlicht. Es heisst «Weltfrömmigkeit». Herbert Fischer von lu-wahlen.ch hat mit ihm darüber ein Gespräch geführt.
Herbert Fischer: Sie haben ein Buch mit fünf Essays veröffentlicht mit dem ungewöhnlichen Titel «Weltfrömmigkeit». Warum wählten Sie das Essay-Format?
Andreas Iten: «Essay» heisst Versuch. Er lässt sich nichts vorschreiben. Er ist ein freies Spiel mit Gedanken, die anregen sollen. Man kann sich dem Thema annähern und sich von ihm entfernen. «Weltfrömmigkeit» ist übrigens ein Begriff, den Goethe geprägt hat.
Was meinen Sie mit «weltfromm»?
Ich will damit sagen, dass wir uns nicht um den Himmel zu kümmern brauchen, sondern um die Erde. Fromm sein heisst, sich dem in Achtung zuwenden, was uns das Leben ermöglicht. Das liegt nicht in der Metaphysik, sondern in der vernünftigen Zuwendung zur Erde.
Sie äussern sich religionskritisch. Das könnte Ihnen Ärger bescheren.
Jeder kann glauben, was er will, aber man sollte seinen Glauben stets hinterfragen und prüfen, ob der Glaube vor der Vernunft steht. Religionen sind menschliche Erfindungen. Sie spalten die Welt. Es war Platon, der hinter der ersten Welt eine zweite, eine metaphysische geschaffen hat, die dann im Christentum zur überragenden Welt wurde.
An eine zweite Welt glauben Sie also nicht?
Sie muss uns nicht interessieren. Die Metaphysik lenkt von den Aufgaben ab, die uns aufgetragen sind. Es geht um ein sinnvolles Leben, das jeder wie erwünscht gestalten kann. Denken kann man alles, aber ohne Bezug zur Erde nützt es nichts. Man bleibt in seinen eigenen Gedanken hängen.
Gedanken, die keinen Bezug zur Wirklichkeit und unserem gelebten Leben haben, ebenso Religionen, die in einem System erstarren, können zu zerstörerischen und bedrohlichen Machtgefügen werden.
Sie sehen in der Religion eine Gefahr?
Religion, die zu einem System erstarrt, wird zu einem Machtgebilde. Das führen uns gegenwärtig die Mullas im Iran vor.
Da heisst es für die Frauen: Wer den Kopf nicht verschleiert, sündigt gegen Gott. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. fordert die Gläubigen sogar auf, gegen die «verdorbene Ukraine» zu kämpfen.
Religionskriege haben auch die westliche Welt erschüttert. Bis die Aufklärung die Haltung der Menschen verändert hat.
Da sind wir bei einem zentralen Punkt: Die Aufklärung hat zwar ein Wertesystem definiert und gilt – unter anderem – als Urquelle der Menschenrechte. Genau diese sind jedoch bei weitem nicht umgesetzt; die Mullahs sind nur eines von vielen negativen Beispielen.
Das ist richtig. Menschenrechte werden immer wieder in Frage gestellt, sogar in der westlichen Welt!
In Ihrem Buch wird das Sakrament der Beichte kritisiert, mit einer interessanten Begründung.
Die Beichte ist das raffinierteste Marketinginstrument! Sie können sündigen, die Sünden beichten und schon haben Sie erneut ein weisses, reines Herz. Wie verlockend! So hat man über Jahrhunderte das Volk an die Kirche gebunden. Aber: jeder sich selbst reflektierende Mensch muss mit seinen Verfehlungen selber fertig werden. Moralisches Fehlverhalten kann ihm keine Kirche abnehmen.
Neben dieser Kritik behandeln Ihre Essays auch viele aktuelle Fragen. Sie schreiben beispielsweise über «Lebensmüdigkeit» und stellen ihr den «lebensgesättigten Menschen» gegenüber.
Es geht darum, einen Sinn im Leben zu finden. Und diesen finden Sie, wenn sie etwas schaffen, was für Sie und andere von Bedeutung ist. Das muss nicht etwas Grosses sein.
Sie werden für Ihre Essays nicht nur Anerkennung erfahren.
Man sollte nicht schreiben, wenn man Liebkind sein will. Irgendein heller Kopf hat mal gesagt: wer jedermanns Liebling sein will, ist bald einmal jedermanns Trottel. Das ist für mich sehr stimmig. Gewiss: mein Buch soll herausfordern, vor allem das Denken. Wir leben in einer Zeit der subjektiven Meinungen. Alle haben irgendeine Meinung zu irgendetwas. Da ist Skepsis angesagt, aber vor allem auch eine Verankerung in der Erde, die uns das Leben schenkt.
«Das Denken des Denkens»? Das müssen Sie erklären.
Sie denken etwas für sich und denken stets nur an das, was Sie denken. Sie gehen also immer von sich aus und nicht von den realen Tatsachen. So schwirren Sie in der eigenen Cloud.
Nochmals zurück zur Frage, wie Ihr Buch beim Publikum ankommen könnte. Sie stellen steile Thesen auf. Noch vor 50 Jahren wären Sie im stockkonservativen, rechtskatholisch geprägten Kanton Zug vermutlich gesteinigt worden, hätten Sie sich derlei Provokationen erlaubt. In jenem Kanton, in dem Sie gerade eine höchst erfolgreiche, politische Karriere starten; immerhin brachten Sie es zum Zuger Regierungsrat (20 Jahre, wovon zweimal Landammann) und später zum Ständerat (12 Jahre).
Nein, damals war ich mit meiner Lebenserfahrung noch ein Anfänger. Als Politiker spielt man eine Rolle und muss ihr genügen, man nimmt eine Position ein und hat zu erledigen, was die Rolle erfordert. Das heisst: erfüllen, was die Wähler erwarten. Da geht es nicht um religiöse Gefühle, sondern um Pflichten. Mein Buch ist eine Art Konfession, die auf der Lebenserfahrung beruht und auf einer anderen Art des Glaubens, jener Glaube an eine Erde, die uns umfängt und die wir bewahren müssen. Wir leben von ihr und werden am Ende zur ihr zurückkehren: «Erde zu Erde», wie es bei Beerdigungen jeweils heisst.
Kann kämpferischer Humanismus Frieden sein? Ist nicht überall dort, wo Kampf ist Krieg?
Insgesamt wirken Ihre Antworten pessimistisch – wenn nicht gar fatalistisch. Haben Sie auch eine Botschaft der Hoffnung, die anderen Leuten Mut macht? Ich denke vor allem an die vielen erfreulichen, jungen Menschen, die sich für einen kämpferischen Humanismus engagieren und ihn glaubwürdig verkörpern.
Ich glaube, mein Buch ist kämpferischer Humanismus. Eine moderne Art von Konservatismus. Die Botschaft heisst: bewahrt die Erde, damit wir gesund und frei leben können, sozusagen ein neues Narrativ. Weltfromm leben heisst also, zur Erde Sorge tragen. Überlegen, was ein gelingendes Leben bedeuten könnte. Der ganze Essay beschäftigt sich nur damit. Zu Beginn habe ich das ausführlich dargestellt, es zieht sich durch alle fünf Abschnitte durch, bis zum Kapitel «Weltfrömmigkeit». Dort wird deutlich, worauf es mir ankommt. Nicht Pessimismus, vielmehr ein Aufruf zu einem realen, wahrhaften Leben.
Was ist ein «reales, wahrhaftes Leben»?
Es gibt Wirklichkeiten, die nicht geleugnet werden können, die muss man anerkennen. Man kann nicht mehr behaupten, «alles sei relativ». Beispiel «Klimawandel ist nicht real.» Das ist falsch und unwahr. Mir geht die Wissenschaftskritik heute zu weit: was nicht passt, darf nicht wahr sein.
Das dokumentierte Leben von Pater Bruno Stephan Scherer – abgeholt im Kloster Mariastein
Von Trudi von Fellenberg-Bitzi
Das dokumentierte Leben eines geistlichen Kulturschaffenden abholen, im Frühling 2023.
Im April, wenn im Fricktal die Kirschbäume in voller Pracht blühen, ist Trudi von Fellenberg-Bitzi nach Mariastein SO gefahren, um mehrere Kartonschachteln voll mit Dokumenten, Unterlagen, Schriftstücken, Briefen und Zeitungsauschnitten abzuholen, hinterlassen von Pater Bruno Stephan Scherer (1929–2017).
Sprachliche Kompetenz und Hingabe
Der ehemalige Präsident des ISV* (1973–1979) war Germanist, Verleger, Lyriker und Prosaschriftsteller. In den 1970er Jahren zeichnete er sich verantwortlich für die «Innerschweizer Lyrik- und Prosatexte», eine Schriftenreihe des damaligen ISV. (*ISV: Innerschweizer Schriftstellerverein, heute ISSV: Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein)
Pater Bruno Stephan Scherers Hinterlassenschaft ins Archiv der Zentralbibliothek Luzern
Bereits zu einem früheren Zeitpunkt war Bruno Bollinger in Mariastein und sichtete das viele, von Pater Bruno Stephan Scherer hinterlassene Material. Der ganze Nachlass wurde von Pater Lukas Schenker erfasst und in eine überschaubare Form gebracht. Jener Teil, der für den ISSV von Bedeutung oder Interesse ist, wird nun durch Sybilla Schmid Bollinger und Bruno Bollinger digitalisiert und für die Archivierung in der Sondersammlung der Zentralbibliothek Luzern vorbereitet.
Biedermann
oder eine Welt
von Lüstlingen und Heuchlern?
Von Daniel Annen

An den Inglin-Literaturtagen in Schwyz war zu erkennen: Die Rezeption des Schwyzer Schriftstellers Meinrad Inglin (1893–1971) ist überaus wechselvoll. Ein Stimmungsbericht für Inglinianer und andere, die es werden wollen.
1938 war die Zeit, als einige Innerschweizer Kulturschaffende um den Luzerner Oberbibliothekar Albert Müller den ISSV (zuerst noch ISV) andachten, obwohl der Verein erst 1943 gegründet wurde. Inglin stiess 1953 zum ISSV, wie Josef Konrad Scheuber, damals ISSV-Präsident, in einer Ankündigung zu Inglins 75. Geburtstag im Jahr 1968 schrieb.
Der Priester Scheuber, in vielerlei Hinsicht stark im katholischen Milieu und in der geistigen Landesverteidigung verhaftet, erwähnte Inglins 1922 erschienenen Erstling, «Die Welt in Ingoldau», um diese Zeit bereits ohne negative Untertöne. Ob er allerdings diesen Erstling zu Recht als «Jugendroman» bezeichnete? Gewiss kommen Jugendliche vor in diesem Buch, aber ihre Sexualität wird so sehr problematisiert, dass gerade Leute wie Scheuber es kaum als Lektüre für Jugendliche empfohlen hätten. Das Fluidum der damals noch bekannten Trotzli-Bücher jedenfalls wirkte anders.
Man bedenke: Als der Erstling in der Adventszeit 1922 erschienen war, wetterte Inglins Schwyzer Mitwelt. Inglin selber schreibt davon im Januar 1923 seinem Kommilitonen aus der Berner Studienzeit: «In Schwyz hat man mich von der Kanzel herab verdammt. Ausserdem wollten mich ein paar Fanatiker totschlagen. –»
Dominanz der Moral
Von der Kanzel herab! Es war die kirchliche Dominanz in der Mentalität des Fleckens Schwyz, die in Antipathien gegen Inglin umschlug. Sie förderte keineswegs eine Lektüre à la Jugendbuch. Man lese etwa einen für die schwyzerische Kritik bezeichnenden Satz in einem Verriss der Luzerner Zeitung «Vaterland» vom 30. Januar 1922: «Eine Welt von Lüstlingen und Heuchlern» sei die «Welt in Ingoldau». Da sei zum Beispiel ein «scheusäliger Wirt und Verführer», da seien «Mütter, die ihre Söhne verhätscheln», und «Knaben, die in jugendlichen Verirrungen verstrickt sind».
Es ging vor allem um moralische Positionen, gegen die der Roman aus der Optik damaliger Schwyzer heftig einfuhr. «In widriger Weise wird Heiliges (im besondern die Beicht [sic!]) und Unheiliges einander an die Seite gestellt, das Lüsterne und Frivole mit offensichtlicher Lust gesucht, der tiefe sittliche Ernst fehlt und wo er vorgespielt werden will, kann man nicht daran glauben.» Es ging also vor allem um Moral, darum die zentrale Stellung der Beichte in diesem Verriss. Dass die Fronleichnamsprozession am Schluss des Romans relativ gut wegkommt, wurde kaum zugegeben.
Der Autor des Verrisses scheint denn auch nicht sachliche Gründe dagegen aufbringen zu können. So ärgert er sich vor allem darüber, dass ausgerechnet ein Apostat die Fronleichnamsprozession kommentiert. «Die sittliche religiöse Erhebung muss schliesslich der abtrünnige Priester bieten, in seinen Glossen über die Fronleichnamsprozession.»
Milieukatholizismus und heute
Dieser Ärger passt zum damaligen Milieukatholizismus, der den Geistlichen eine Bedeutung zumass, die kaum neutestamentlich oder aufgrund einer ernstzunehmenden aktuellen Theologie begründet werden kann. So musste eine Kommentierung eines kirchlichen Fests ausgerechnet durch einen, der das Amt des Geistlichen abgelegt hat, als Frechheit erscheinen. Auch das Wort «Glossen» mag negativ eingefärbt sein. Aber immerhin: Von der Sache her wird eine «sittliche religiöse Erhebung» zugestanden, mag dieser Ausdruck vom Kontext her auch sarkastisch klingen.
Heute, 100 Jahre nach dem Erstdruck von «Welt in Ingoldau», dürfte wohl eine aktuelle Mentalität, selbst eine theologisch ausgerichtete, dem Ingoldau-Roman gewogener sein. Das zeigte sich auch an den Inglin-Literaturtagen 2022. Auf Initiative des Schwyzer Juristen und ehemaligen Nationalrats Reto Wehrli kamen verschiedene Facetten der Dichterpersönlichkeit Inglin zum Vorschein.
Am 27. Mai war Auftakt in der von Markus Rickenbacher geleiteten Kantonsbibliothek Schwyz und war zugleich Vernissage für eine Neuauflage des Ingoldau-Romans, den der Zürcher Limmat-Verlag nun in der Originalfassung von 1922 neu herausgegeben hat. Die Meinrad Inglin-Stiftung war vertreten durch deren Präsidenten Ulrich Niederer.
Literatur berührt Biologie
Weiter ging es einen Tag später mit einer Lebhag-Pflanzung beim Kollegi Schwyz, zusammen mit Schwyzer Schulkindern und dem Schwyzer Bildungsdirektor Michael Stähli. Darauf folgten im Rössli zwei Vorträge über die Erzählung «Der Lebhag» von Meinrad Inglin. Einer hielt der Germanist Nathanael Schindler, der zweite der Umweltingenieur André Röthlisberger. Literarische und biologische Aspekte berührten sich.
Der Schauspieler Philippe Schuler spielte die Rolle Meinrad Inglins am Schwyzer Wuchemärcht und hielt als Inglin die 1.-August-Rede. Am 27. August hielt der hier Schreibende einen Vortrag über den Ingoldau-Roman, im Anschluss daran erbot sich eine Diskussion mit den Germanisten Viktor Weibel und Georg Suter sowie Personen aus dem Publikum. Das Interesse war auch 100 Jahre danach gross, es wurden ca. 130 Hörende gezählt.
Am 22. September trat Thomas Hürlimann auf. Der Schriftsteller und ISSV Mitglied betonte eher den konservativen Charakter des Romans, was Diskussionen auslöste. In diesem Zusammenhang wurde auch der Bezug zu Nietzsche wichtig, den Stefan Zweifel und Klaus Opilik aufzeigten. Die polnische Germanistik-Professorin Marzena Gorecka beleuchtete am Abend darauf Inglins Beziehung zu seiner Frau Bettina. Gorecka kennt diese Beziehung gut, ihr Buch enthält einen beachtlichen Teil der Briefe zwischen Inglin und seiner Bettina.
Bergwelt und Gerichtsverhandlung
Einen wichtigen Aspekt dieser Inglin-Tage bildete der Naturbezug. In einem Event ging der kantonale Wildhüter Pius Reichlin auf Inglins Darstellungen der heimischen Landschaft und Bergwelt ein. In diesem Zusammenhang kam auch die Filmwelt zum Zuge. Filmemacher Xavier Koller führte höchstpersönlich in seinen Film «Der schwarze Tanner» ein. Ebenso gaben Charlotte Waltert und Alvaro Schoeck Einblick in die Arbeit des inzwischen fertiggestellten Films «Die Graue March».
Weiter fand am 3. September eine Führung durch Schwyz statt, mit besonderem Akzent auf literarisch relevante Orte. Die Literarische Gesellschaft Zug war ebenso Teil davon. Die Führung, welche auf dem Schwyzer Hauptplatz begann, führte unter anderem in die Patrizierhäuser und schlussendlich zu zwei im wichtigen Gräbern auf dem Friedhof, welche in «Werner Amberg» vorkommen. Zu guter Letzt zeigte der Künstler Norbert Stocker, der heute das Inglin-Haus bewohnt, wichtige Reminiszenzen dieses Orts.
Entsprechend gut besucht und hochinteressant war auch die Gerichtsverhandlung im Kantonsratssaal des Schwyzer Rathauses am 24. September. Richtig gelesen: eine Gerichtsverhandlung! Der Angeklagte war Meinrad Inglin, erneut dargestellt von Philippe Schuler. Die eigentliche Causa war der ehrverletzende Charakter des Ingoldau-Romans. Dadurch, dass die Debattierenden auch in der realen Welt Anwälte sind (Alois Kessler und Sandro Tobler), war der Bezug zur Realität gegeben. Vital Zehnder, welcher den Richter darstellte, gehört zum Führungsgremium des kantonalschwyzerischen Verwaltungsgerichts.
Untermalt wurde das Literaturfest immer wieder von Musik. Die aus Schwyz stammende Dirigentin brachte Musikstücke zur Aufführung, die Inglin selber komponiert hatte und wohl auch mit seiner Frau Bettina gespielt hatte.
Eine bejahende Universalität
Das Abschlussbouquet am Sonntag war ein brillant aussagekräftiges, vor allem in Bezug auf Meinrad Inglin. Der Einsiedler Abt Urban Federer und der frühere Schwyzer Pfarrer Reto Müller hielten an der Sonntagsmesse in der Pfarrkirche St. Martin Schwyz eine Predigt in Dialogform. Dabei arbeiteten sie klug heraus, wie Inglin mit der verrechtlichenden katholischen Praxis seiner Zeit Mühe hatte, wie sehr er aber Grundmotive des katholischen Denkens im Sinne einer bejahenden Universalität, also nicht einer nur als Institution erfahrenen Kirche, bejahen konnte.
Das Vertrauen in eine höhere, darum nicht begrifflich durch und durch fassbare personale Macht war Inglin wichtig. Man lese nur dir Schlusspassagen der «Grauen March» daraufhin durch. Die Musik, die ja nicht auf umhegte Einzelbegriffe abhebt, war an der Messfeier vom 25. September entsprechend wichtig. Rita Weber war gerade darum eine vorzügliche Organistin an diesem Gottesdienst.
Was am Nachmittag des 25. Septembers folgte, war Abschluss und Höhepunkt der Inglin-Literaturtage gleichzeitig. Beatrice von Matt, Literaturwissenschaftlerin und ehemalige Feuilletonredaktorin der NZZ und ausgewiesene Doyenne der Inglin-Freunde und -Forscher. Ihr verdanken wir eine fundierte Inglin-Biografie, in einem doppelten Wortsinn: Einerseits hat sie die Biografie aufgrund der Gespräche mit Inglin und der Hinterlassenen geschrieben, inklusive Unveröffentlichtes. Anderseits konnte sie das nur machen, weil Inglin ihrem Charme erlegen ist.
Diesen Zusammenhang erzählte mir mein väterlicher Freund Paul Kamer bei einer Flasche Wein. Mit dem Wort «Charme», das ging aus dem Gesprächskontext hervor, war das persönliche Auftreten gemeint, doch darin eingeschlossen war die intellektuelle Kraft der berühmten Literaturkritikerin, das literarische Werk in dessen Kerngehalten zu durchdringen. Darum konnte sie Inglins Oeuvre in ihrer Biografie und Aufsätzen positiv konturieren. Sie hat Inglin befreit vom Biedermann-Image, das ihn zu lange wie ein böser Schatten verfolgte. Wie Beatrice von Matt dabei den literar- und geistesgeschichtlichen Kontext miteinbezog war ein grossartiger, ja ein brillanter Abschluss der Inglin-Tage.