
Von Trudi von Fellenberg-Bitzi
Anwältin der Schreibenden
Gute Rahmenbedingungen schaffen für mehr als 220’000 literarisch Schreibende in Europa – diese Aufgabe hat den Horizont von Nicole Pfister Fetz verändert.

Seit rund einem Jahr vertritt Nicole Pfister Fetz die 220 000 Autorinnen und Autoren Europas. Als Generalsekretärin des European Writers’ Council EWC mit Sitz in Brüssel setzt sie sich für die Interessen der literarisch Schreibenden ein, die insgesamt in 34 Sprachen publizieren.
Kein unbeschriebenes Blatt
Unter Schriftstellerinnen und Schriftstellern muss man die Zuger Kunsthistorikerin Nicole Pfister Fetz nicht vorstellen. Über 16 Jahre amtete sie als Geschäftsführerin des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz A*dS, bevor sie im Juli 2023 ihren Traumjob verliess, um in Europas Hauptstadt Brüssel einer noch verantwortungsvolleren Arbeit nachzugehen.
Horizonterweiterung durch Diversität
Zusammen mit dem Vorstand des EWC – der zurzeit 49 nationale Berufsverbände von Autorinnen und Übersetzern vereint – und dem Präsidenten Miguel Àngel Serrano, einem spanischen Dichter und Schriftsteller, engagiert sich Nicole Pfister Fetz im Dachverband für gerechte Rahmenbedingungen in einem sich ständig verändernden Umfeld für Schreibende. Auch der A*dS gehört seit Jahren zum EWC. Insofern war die neue Generalsekretärin keine Fremde im neuen Job.
Trotzdem hat sich in ihrem Leben einiges verändert: vermehrte Reisetätigkeit, internationale Beziehungen zu Autorinnen und Autoren, noch mehr Vielsprachigkeit und die Interaktion mit Politikerinnen und Politiker innerhalb der EU. Sie selbst unterstreicht die andere Herangehensweise sowie die Diversität und sagt: «Es ist mehr eine Horizonterweiterung denn eine Veränderung.»
Austausch und Vielfalt
Nicole Pfister Fetz pflegt auch mit den weltweiten Vertreterinnen und Vertretern der Berufsverbände, so auch aus den USA, einen regen Austausch. «Der EWC ist einer der grössten Interessensvertreter ausschliesslich von Schreibenden überhaupt. Neben literarischen aller Genres gehören auch wissenschaftliche Autoren zum Verband.»
Viele Debatten, aktuell vor allem über Künstliche Intelligenz, würden natürlich weltweit alle Autorinnen und Autoren und somit auch Berufsverbände betreffen, ergänzt sie. Sie erarbeitet Grundlagenpapiere für den EWC – auch in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden –, kämpft für bessere Rahmenbedingungen der Autorinnen und Autoren und vertritt als Delegierte den Verband in internationalen Gremien in formellen und informellen Gruppen. Sie ergänzt zum Thema Arbeit: «Was bedeuten zum Beispiel sozial- oder steuerrechtlich einwandfreie Rahmenbedingungen, wenn Autoren in 15 bis 20 Ländern tätig sind, Lesungen haben oder Übersetzungen abrechnen müssen? Denn Autoren bewegen sich in der Welt, nicht nur im eigenen Land. Die Diversität ist riesig.»
In der Welt zu Hause
Lobbying innerhalb der EU-Politik ist für Nicole Pfister Fetz etwas Neues. Unterstützt wird sie von einem kompetenten Vorstand und einer eigenen Mitarbeiterin. Als sie noch die Interessen der Schweizer Autorinnen und Autoren vertrat, dachte sie: «Irgendwann muss noch etwas anderes kommen.» Sie schätzt, dass sie erneut einen Traumjob hat, der ihr genau das bietet, was sie sich gewünscht hat. Neben Homeoffice im schönen Zuger Heim kann sie reisen, trifft Leute aus aller Welt und ist weiterhin in der Literatur beheimatet. Sie arbeite gerne von zu Hause aus, liebt es aber auch, Flügel zu haben und das im Ausland Erlebte später wieder nach Hause zu tragen. Die neue Aufgabe lässt ihr genügend Zeit, um nach wie vor auch in der Schweiz und somit auch in Zug ihre Leidenschaften zu pflegen: kulturelle Projekte andenken und begleiten – und vielleicht auch wieder etwas mehr schreiben – in ihrem ursprünglichen Beruf als Kunsthistorikerin.
Am 5. Juni ist Nicole Pfister Fetz Gastreferentin des ISSV im «Stamm».
Externe Gäste sind willkommen. Eintritt frei/Kollekte.
Lesebühne im Oswalds Eleven
St.-Oswalds-Gasse 11, Zug
20 Uhr
Von Bruno Steiner
Rädchen
Die Annahme des Kulturförderungsgesetzes im Kanton Schwyz im Jahre 2043
Eine fantastische Geschichte

Am Montagmorgen, 8. Juni 2043, nimmt er noch ganz benebelt, übernächtigt und verkatert die aufpoppenden Neuigkeiten zur Kenntnis. Die Schwyzer*innen haben ein Kulturgesetz angenommen, es wird in die Verfassung überführt und umgesetzt. Die Medien berichten schweizweit darüber: Auch Schwyz hat nun, als letzter Kanton der Schweiz, ein Kulturfördergesetz!
Noch immer ist er euphorisch, ja überrascht, obschon er sich seit vielen Jahren auf genau diesen Moment vorbereitet hat. Ungläubig reibt sich der 73-Jährige nach der langen Feier die Augen, dass es nun doch gelang, den gesetzlosen Zustand für zeitgenössische Kultur im Kanton Schwyz zu überwinden.
Vielleicht, so sagt er leise zu sich, waren die neuen Netzwerke von Kulturschaffenden inner- und ausserhalb des Kantons Schwyz doch mitentscheidend. Diese Verbindungen hatten sich aus dem lobbyierenden Engagement mit Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Soziologie, Geschichte und der Brauchtumskultur ergeben. Die Grenzen zwischen in sich abgeschlossenen Gesellschaftsbereichen wurden seit einigen Jahren spürbar poröser. Trotz obrigkeitlicher Isolationsbestrebungen begannen sich verschiedene Gruppierungen und Vereine füreinander zu öffnen und fruchtbare Zusammenarbeiten zu initiieren. Eventuell war diese Solidarisierung aus Neugier aneinander möglich. Bestimmt lag es aber auch an der jahrelang praktizierten, destruktiven Regierungspolitik, die sich selbst in den Schwanz zu beissen begann. Die extrem gewordene, isolationistische Schwyzer Politik in Kombination mit dem angestrebten schlanken Staat leistete der Unzufriedenheit bei den Einwohner*innen Auftrieb. Der jahrzehntelang offen zur Schau gestellte Gallier-Stolz in der Meinung, ein einzigartig tolles Volk im einmalig schönen Kanton Schwyz zu sein, veränderte sich schleichend zum Verdruss, besonders speziell ausgegrenzt zu werden. Die Proteste gegen die Abschottungspolitik der selbstherrlichen Regierung wurden aufgrund der grösser werdenden Isolation immer lauter. Denn die ausserordentlichen Wirtschaftssanktionen von benachbarten Kantonen und Regionen zogen ungewohnte Einschränkungen für die Menschen im Wohlstandskanton Schwyz nach sich. Die empfindlich spürbaren Auswirkungen der Rosinenpick-Politik auf Kosten der individuellen Freiheit scheinen der berühmte Tropfen zu viel gewesen zu sein. Zumindest gingen die Menschen während Wochen zu Zehntausenden für grosse Unmutskundgebungen auf die Strasse und forderten eine Kehrtwende der Regierungspolitik mit offenen Grenzen, damit Vielfalt anstelle der Einfalt die Lebensfreude zurückbringt.
Im kreativen Aufstand gegen die stur blockierende Regierung suchte die Bevölkerung schliesslich Unterstützung bei Kulturschaffenden. Diese hatten sich schon längst in den Untergrund abgesetzt, um dann bereit zu sein, wenn die Gesellschaft sie eines Tages benötigen würde.
Er fragt sich, ob es also das Zusammenspiel von sozialpolitischen und kulturhistorischen Ereignissen brauchte, um in der damaligen Gegenwart gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Aufgrund des sanktionierten Handels mit dem Kanton Schwyz und den erwähnten Einbussen in der persönlichen Lebensqualität begannen sich die Einwohner*innen vermehrt für historische Vergleiche zu interessieren, um den Politvertretern konstruktive und friedlich umsetzbare Lösungsvorschläge unterbreiten zu können. Die Kulturakteur*innen aus verschiedenen Sparten konnten dabei wertvolle Hinweise liefern, indem sie vermittelnde Bezüge von der Vergangenheit zur Kulturgeschichte der Gegenwart im Kanton Schwyz herstellten.
In der Erzählung «Ehrenhafter Untergang» von Meinrad Inglin etwa oder im Film «Galgensteiger» von Xavier Koller wurden Anhaltspunkte und Auswege sichtbar, wie ähnlich gelagerte Konflikte früher hätten gelöst werden können, jedoch nur verdrängt wurden. Langsam entwickelte sich in der Bevölkerung das Bewusstsein, dass feudale Altlasten das demokratische Schwyz bleiern an Ort treten liessen. Damals dämmerte es den Menschen, dass es unumgänglich war, die oft als hell-leuchtend dargestellte Schwyzer Geschichte aufzuarbeiten. Zu sehr schmerzte die kollektive Verdrängung der Erfahrungen aus der dunklen Söldnerzeit, um das Verwirrspiel mit der Glorifizierung der prachtvollen Schwyzer Herrenhäuser weiterhin mitzutragen. Ehemalige Untertanen, Nachkommen von Söldnern und weitere Opfer der aristokratischen Machtelite forderten Aufklärung und ergänzende Neuschreibung der Geschichte.
So subversiv wie die «Falsche Herrin» von Margrit Schriber die Macht der autoritär Herrschenden im Hauptort Schwyz unterwanderte, so stark zeigte sich damals der Wille, die Gesellschaft von erdrückenden Altlasten zu befreien. Soziale Aspekte wie das Ausnützen von hausgemachten Notlagen, die Ausbeutung rechtloser Bevölkerungsschichten sowie Missachtung von universellen Menschenrechten sollten in die offizielle Geschichte mitaufgenommen und erzählbar gemacht werden.
Wahrscheinlich, so denkt er nun, lieferte die Zusammenarbeit der Kulturschaffenden mit Patricia Purtschert weitere wichtige Impulse für die kulturelle Entwicklung. Die aus Goldau im Kanton Schwyz herkommende Wissenschaftlerin brachte durch ihre Forschungsarbeiten rund um die postkoloniale Schweiz – beziehungsweise einen schweizerischen Kolonialismus ohne Kolonien – wertvolle Erfahrungen im Umgang mit tabuisierten Themen mit ein. Purtschert half im Jahr 2028 mit, den mehrjährigen Aufarbeitungsprozess «Schwyzer Geschichte von unten» in Gang zu bringen und zu beschleunigen.
Wie wichtig das Beleuchten der sich liebevoll und selbstbeweihräuchernd nennenden «Wiege der direkten Demokratie» war, stellte sich im Verlauf der öffentlichen Aufarbeitung heraus. Das Ende der Aristokratie nach dem Sonderbundskrieg 1847 bedeutete ja wohlgemerkt nicht automatisch das Einebnen sämtlicher Standesunterschiede. Ohne Landreform konnten die Grossgrundbesitzer der herrschenden Oberschicht – ebenso verwirrlich wie verniedlichend «Landleute» genannt –Besitztümer und Ländereien unangetastet für sich behalten und nachfolgenden Generationen weitervererben. Das Gewohnheitsunrecht der geburtsabhängigen Chancenungleichheit blieb auf diese Weise auch nach 1848 bis weit ins 21. Jahrhundert hinein bestehen.
Insgesamt, so sinniert er, wurde die Öffentlichkeit wohl erst aufgrund dieser historischen, dannzumal offen angesprochenen Gesellschaftskonflikte auf die kulturpolitische Misere hinter der gloriosen Herrenhaus-Fassade aufmerksam. Plötzlich begann das selbstgefällige Bild der eigenen heldenhaften Sonderexzellenz zu bröckeln, und die bis dahin gültig gewesene Schwyzer Geschichte mit grandiosen Taten der Vorväter wurde mit weiteren vielschichtigen Kapiteln ergänzt. Ein politischer Kulturwandel begann Anfang der 2030er-Jahre die Gesellschaft in den Bereichen Bildung, Soziales, Gesundheit und Kultur zu erfassen, wie er nicht für möglich gehalten wurde. Der Innovationsschub einiger progressiv handelnden Erben brachte das ungeheur grosse wirtschaftliche Potential der ehemaligen Landleute zum Vorschein, das in der Vergangenheit allzu oft hinter palastähnlichen Mauern verschlossen blieb. Das Involvieren von Staatsarchiv und Denkmalpflege in die zeitgenössische Kulturvermittlung half zusätzlich mit, historische Details und traditionelle Räume lebendig zu erhalten oder wiederzubeleben. Ein dynamisches Vorwärtsschauen setzte ein.
Und dennoch: Wie konnte dank kulturhistorischer Aufarbeitung ein solcher Kulturwandel genau damals möglich werden, überlegt sich der seit über 50 Jahren professionell tätige Kulturschaffende. Hatte es davor nämlich jahrzehntelang nach einer baldigen Veränderung ausgesehen, um in entscheidenden Momenten dann doch immer wieder an aus dem Hut gezauberten Negativkampagnen zu scheitern. Die Schwyzer Verantwortungsträger zeichneten in der Öffentlichkeit ein strahlend-intaktes Kulturbild, um sich nach der Abstimmung gegen ein Kulturfördergesetz im Jahr 2005 nicht erneut an der fälschlicherweise als Geldvernichtungsloch bezeichneten zeitgenössischen Kultur die Finger verbrennen zu müssen. Dass seit diesem Kulturschiffbruch 38 Jahre vergangen sein sollen, erscheint ihm heute wie ein schlechter Witz. Er hinterfragt sich jedoch selbstkritisch, ob es mit einer aktiveren und spartenübergreifenden Zusammenarbeit mit noch viel mehr Kulturakteur*innen nicht doch bereits früher möglich gewesen wäre, das eine oder andere Argument treffender zu formulieren und insgesamt zielgerichteter voranzukommen.
Angeregt von der historischen Aufarbeitung begannen zeitgenössische Kulturakteur*innen stärker als jemals zuvor, sich für tiefergehende sozialpolitische Fragen zu interessieren und sich mit dem Zustand der Demokratie zu beschäftigen. Dem zu jener Zeit intensiv diskutierten Filmschaffen von Karl Saurer fiel dabei eine zentrale Rolle zu. Der aus Einsiedeln im Kanton Schwyz stammende, gesellschaftspolitisch engagierte Filmer befasst sich im faszinierenden Dokumentarfilm «Ahimsa» (2012) mit gewaltfreiem Widerstand und mit Demokratieprozessen im indischen Zentralland. Sich beharrlich und erfolgreich für existenzielle Grundlagen einzusetzen, motivierte auch Exponent*innen der damaligen kulturellen Interessensgemeinschaft im Kanton Schwyz immer deutlicher wahrnehmbar. Sich neben der eigentlichen Arbeit als individuell-schöpferische Kulturakteur*innen auch noch für kollektive kulturpolitische Prozesse stark zu machen, wurde zum Standard. Nur so wurde es möglich, sinniert er über die dannzumaligen Umstände, dass der Aufruf zur selbstorganisierten, spartenübergreifenden Zusammenlegung von Kulturressourcen auf Resonanz stossen konnte.
Ziemlich sicher, so denkt der Schwyzer Künstler, jetzt lebhaft angeregt von der kulturpolitischen Rückschau an jenem Morgen nach der grossen Feier, war dieses Kulturfördergesetz nur dank kollektivem Vorgehen möglich geworden. Mit dem Pilotprojekt «plusminus3%» schlossen im Jahr 2035 wichtige Kulturakteur*innen aus sämtlichen Kultursparten des Kantons Schwyz einen sogenannten Kulturpakt. Diesem Verbund gliederten sich in kurzer Zeit eine grosse Zahl kulturproduzierender Amateure und Professionelle, Kulturvermittler*innen, Kulturwissenschaftler*innen, Vertreter*innen aus der Kreativwirtschaft und aus der Brauchtumskultur, Betreiber*innen von Kulturlokalen sowie Kulturinteressierte und Kulturunterstützende an. In dem für die Kultur im Kanton Schwyz beispiellosen Vorgehen erarbeitete die unabhängige Interessensgemeinschaft in selbstorganisierten Workshops und Tagungen einen verbindlichen Katalog, wie die im interkantonalen Vergleich noch immer schmal aufgestellte zeitgenössische Kultur gestärkt werden könnte.
Als erstes schuf das Kulturkollektiv – zunächst gegen den reichlich billigen Vorwurf des Kulturkollektivismus ankämpfend – mit minimal erhöhtem Einsatz von individueller Eigenzeit einen Durchbruch in der Kontinuität der kulturpolitischen Arbeit. Das modellhafte Vorgehen mit umsichtig und breit abgestützten Entscheidungen brachte die zentralen Anliegen sichtbar, wobei die Gesetzesgrundlage für zeitgenössische Kultur ganz zuvorderst stand.
Im Kern von «plusminus3%» stand eine simple, jedoch umso wirksamere Vereinbarung aller Beteiligten: 3 % der persönlichen Kulturzeit sollen auf freiwilliger Basis für die kollektive Weiterentwicklung der zeitgenössischen Kultur im Kanton Schwyz eingesetzt werden. Die bis dahin aufgrund des nichtexistierenden Kulturfördergesetz unmöglich gewesene Etablierung von Kulturinstitutionen für zeitgenössische Kultur wurde mit diesem Pakt des Kulturkollektivs wettgemacht. Von einer hypothetisch zur Verfügung stehenden wöchentlichen Arbeitszeit von 16 Stunden, die zum Beispiel neben einem 60 %-Nebenerwerbsjob realistisch schien, flossen dank «plusminus3%» nur schon von einer einzigen Person 30 Minuten Kulturzeit pro Woche und 2 Stunden pro Monat als Engagement in den Gesamtpool!
Die überaus vielseitigen beruflichen Kompetenzen, Fähigkeiten und Lebenserfahrungen innerhalb der Kulturszene ermöglichten es innerhalb kürzester Zeit, ein unabhängiges, tragfähiges Kulturnetz auf ehrenamtlicher Basis zu bilden. Schwerwiegende Differenzen und hinderliche Themen wurden durch moderierte Diskussionen überwunden. Mit der ausgezeichneten Vernetzung in sämtlichen Gemeinden und Bezirken erarbeitete sich «plusminus3%» bald den Ruf, eine verlässliche Anlaufstation für sämtliche Belange in zeitgenössischer Kultur im Kanton Schwyz zu sein. Dadurch entwickelte sich endlich jener engmaschige Austausch mit der kantonalen Kulturverwaltung, der für eine «Mitwirkung von unten» so wichtig, von der Regierung anfänglich zwar gefürchtet, mit der Zeit jedoch für gut befunden wurde. Durch das Kanalisieren der bei Kulturakteur*innen im Kanton Schwyz weitverbreiteten Ungeduld, Frustration und Resignation wurden diese zu positiver Energie in einem konstruktiven Prozess umgewandelt.
Neben der Erhöhung der Kultursichtbarkeit hatte der idealistische Einsatz und das Lobbyieren für die zeitgenössische Kultur sowohl für die kulturelle Interessensgemeinschaft als auch für die Kulturverwaltung noch weitere Nebeneffekte. Die Emanzipation von der alten, tief in den Knochen sitzenden Angst vor kulturpolitischen und kulturwirtschaftlichen Debatten ermöglichte einen ernsthaften Dialog mit konservativen Gruppierungen wie Militärfreunde, Studentenschaften und allerlei Korporationen. Der für viele zeitgenössische Kulturinteressierte überraschend grosse Einfluss jener vorwiegend männlicher Netzwerke auf die Gesellschaft und Wirtschaft wurde beziffert, was zu einem Umdenken in Kultur, Politik und Wirtschaft führte. Für das gleichberechtigte Politisieren in Parteien und im Parlament sowie für die Arbeit auf kommunaler Ebene wurde der militärische Grad als zentrales Kriterium abgeschafft. Ohne die Dominatoren dieser althergebrachten, verdeckten Machtstrukturen gelang es anderen gesellschaftsbildenden Initiativen zusammenzuspannen. Die Bewegungen zur Stärkung der Frauenrechte und der Rechte aller Personen, zur Öffnung des religiösen Dialogs, zur Verbesserung der zeitgenössischen Kultur und für vielsprachige Kulturaktivitäten halfen sich gegenseitig in ihren Bestrebungen, die Schwyzer Gesellschaft angstfreier und diverser zu gestalten.
Dies alles führte dazu, resümierte er, dass letztlich auch noch der wichtigste Aspekt dazukommen konnte und entscheidende Anteile für das von der Stimmbevölkerung angenommenen Kulturgesetz beitrug: Der Einbezug der erfolgreichen Schwyzer Wirtschaft, des Unternehmertums und des Bauernverbands war nur möglich, weil es in hunderten Gesprächen mit gewichtigen Personen der Privatwirtschaft gelang, die zeitgenössische Kultur als Wirtschaftsfaktor zu vermitteln. Dass die ausserschwyzerische Bevölkerung nach Zürich hin orientiert sei und sich die Kulturinteressent*innen im inneren Kantonsteil nach Luzern und auch nach Zürich ausrichte, war ein oft herangezogenes Stereotyp und wurde mit der erhöhten Bereitschaft zum Austausch nach und nach abgeschwächt. Viele Gedankengänge waren hüben wie drüben vorhanden, doch mussten sie erst noch verbunden werden. Nur so wurde es möglich, den kontextualisierten Austausch zwischen zeitgenössischer Kultur und Wirtschaft ernsthaft zu kuratieren. Es war nun nicht mehr nur eine kulturgeschichtliche oder kulturpolitische, sondern eine kulturwirtschaftliche Diskussion mit konkreten Ansätzen zu Veränderungen geworden! Man sprach miteinander über echte, anhaltende Investitionen in Kulturinstitutionen. Vor allem von privatwirtschaftlicher Seite wurden diese Gespräche auf ein neues Niveau gehoben, indem zukunftsorientierte Wirtschaftsexponent*innen gemeinsam mit professionellen Kulturakteur*innen eigene Investitionsformate entwickelten. Damit einhergehende Vermittlungsaktivitäten innerhalb zeitgenössischer Kulturprojekte mit dem Unternehmertum scheinen, so nickt der schon seit langem pensionierte Kulturschaffende anerkennend, letztlich auch die öffentliche Hand und damit die Bevölkerung angeregt zu haben, sich aktiv für die gesetzlichen Grundlage der zeitgenössischen Kultur einzusetzen.
Abschliessend gibt er an diesem Montagmorgen, fast auf den Tag genau 38 Jahre nach der Abstimmung gegen das Kulturfördergesetz im Jahr 2005 unumwunden zu, dass er selbst lange nicht daran geglaubt hatte, dass sich am gestrigen Abstimmungssonntag eine Mehrheit der Stimmbevölkerung finden wird, um dem zeitgemässen Kulturfördergesetz zuzustimmen.
Umso freudiger löst er sich jetzt von all den eingehenden News und macht sich auf den Weg zum fast fertig renovierten Rathaus in Schwyz, wo noch letzte Details an der neuen, multimedial-animierten Fassade zu justieren sind. Aktualisierte Darstellungen mit pulsierenden Rhythmen verweisen an der Schnittstelle von innen und aussen auf die demokratischen Vorgänge im Rathaus. Zusammen mit dem neu eröffneten Interkulturzentrum Wysses Rössli und den hängenden Gärten des Kirchenhauses entstand die erfrischende Umrahmung für den neukonzipierten Hauptplatz. Von der Blechlawine befreit bietet diese jetzt nicht nur neue Erlebnisräume, um die Seele baumeln zu lassen, sondern auch die klimatechnisch so dringend benötigten Verbesserungen zur Zukunftstauglichkeit.
Später wird er nach Melide ins Swissminiature fahren, um auch dort das ausgediente Modell mit der Darstellung vom Schwyzer Hauptplatz gegen das neue Ensemble auszutauschen.
Von Severin Hofer
It was in a prison and now it is free

Ich zwinkere de Chnopfauge zue und studier das Tier gnauschtens. Als Chind hätt ich i de Nacht devo träumt, uf dem Dromedar z riite.
Es isch Donnschtigobig und ich ziehn ziillos dur d Chliistadt. Plötzlich gsehn i im rächte Augewinkel öppis, won i nöd rächt chan iiordne. Ich bliibe stah, dräj mi um und lueg fadegrad em‘ne Dromedar i d Auge. Es staht döt, ruhig und majestätisch. Hätt’s zwüsched üs kei Glasschiibe, würd i mini Hand usstrecke, dass es cha dra schnuppere. Wobii ich mer unsicher bin, öb Dromedar au so uf fremdi Händ abfahred wie biispilswiis Hünd. Und irgendwie würd mer au bitz komisch vorcho, das bimene Tier us Plüsch z mache. Demit wett i nöd behaupte, das Dromedar vor mir seigi nöd beiidruckend. Im Gägeteil. Es isch ebe gliich no imposant mit sinere Längi vo zwei Meter und em Höcker, wo mer bis zum Hals ufe langet. Ich zwinkere de Chnopfauge zue und studier das Tier gnauschtens. Als Chind hätt ich i de Nacht devo träumt, uf dem Dromedar z riite.
Jetzt aber bin i erwachse und cha läse, was uf de Schiibe staht: Outlet.
Wie vill Tafele Schoggi i das Dromedar inepasse würded? Mini Grossmuetter hed mir als chline Bueb biibracht, wie me schätzt
Am nächschte Tag schlepp i Zügelkartons in vierte Stock ufe. Won i grad so ne Chischte volle Chleider uflüpfe zum i die neu Wohnig vome Kolleg ufezträge, überleg i, wie schwär das Dromedar ächt isch. Mini Grossmuetter hed mir als chliine Bueb biibracht, wie me schätzt. «E Schoggitafele wiegt hundert Gramm», hed sie gseit. Drum hirn i dra ume, wie vill Tafele Schoggi i das Dromedar inepasse würded, während ich Karton für Karton träge.
Am Mittag frag i am Tisch, wo bis denn vo de Zügelhälferlis niemert nüüt gseit hed, wer vo do inne s Dromedar kenni. Das grosse Viich us em Iichaufszenter, ganz i de Nöchi. Alli nicked, und de eint, wo Chischte wägruume chan wien en Schneepflueg, will wüsse, werum ich so Frage stelle.
Wil’s sich i dem Lade sicher einsam fühlt. Alli lached und ich realisier, dass ich s Dromedar no a dem Tag befreie sött.
S Mittagsgschwätz schiint mit em letschte Kafi wäggspüelt z sii und mer hiived schwiigend die reschtliche Chischtene s Stägehuus duruf. Gäg die füfi, dusse isch es dunkel, träffe mer üs vor em Huus. Es paar Zigerette wärded graucht, während über d Tücke vom Zügle schwadroniert wird. «Tschau. Schöne. Bis es anders Mol.»

Das prächtige Exemplar hole mer hüt da us dem Hoschpiz under de Spiilzüügläde
Dehei erwartet mich mini Mitbewohnerin, d Nina, im Türrahme mit vier packte Koffer.
Wäg dere ganze Gschicht mit em Dromedar isch undergange, dass hüt i min’re eigete Wohnig au no züglet wird. Richtig denäbet vo mir, das z vergässe. Vor zwei Wuche han i no luut plagööret, de Abschiid würded mer denn gross zelebriere. Und jetzt chund mer nüüt Gschiiders z Sinn als: «Du reisisch erscht morn ab, gäll?». D Nina nickt und schlaht vor, dass mer gönd es Bier go trinke. «Ich hätt en andere Vorschlag. Hüt mache mer öppis, wo längscht fällig isch.»
Bitz spöter lotsen i d Nina dur d Stadt bis zum Schaufänschter mit em Dromedar. Döt zeig i uf das prächtige Exemplar vo Plüschtier und mach en Aasag: «Das Dromedar hole mer hüt da use.»
Wie vill dass es chostet, wett mini Begleitig wüsse. «Das isch kei gwöhnliche Spilzüüglade, das isch en Outlet. Sozäge s Hoschpiz under de Spiilzüügläde. Im’ne Outlet isch alles günschtig», erklär ich ihre. «Aber ja, mini Schmärzgränze isch bi hundertsächzg Franke», säg i no und stosse d Glastüre uf. D Nina chund mer hinde noche i Lade.
D Verchäuferin hinder em Trese schiint uf ihre Fiirobig z warte. No hed sie en Stund vor sich. En Stund, wo das Meitli bim einte Regal wohrschiindli bis zur letschte Sekunde uskoschte wird. Näbscht üs isch sie die einzig Chundin und inspiziert s Spiilzüüg mit scharfem Blick. Sie luegt uf, won i mini Befreiigsred Richtig Verchäuferin asetze.

E ganzi Badwanne gfüllt mit Paninibildli – s’Meitli macht grossi Auge
«Vo artgrächter Haltig cha do kei Red sii», schlüüss i mis Plädoye für d Freiheit vo dem Plüschtier.
D Verchäuferin luegt frogend zu de Nina, wo drufabe nur mit de Schultere zuckt.
Wie vill’s den choschtet, wett i wüsse. Lang starrt d Verchäuferin uf de Bildschirm vo de Kasse und ich bi mer nöd sicher, öb sie nach em Priis suecht oder sich am sammle isch. Uf all Fäll erklärt sie mir, dass es ursprünglich zwoituusigachthundert Franke koschtet heigi.
S Meitli, wo sini Ufmerksamkeit vo de Spiilzüüg zu üs übere verlageret hed, wett wüsse, öb ich das Dromedar würklich befreie möcht.
«Das choschtet so vill wie en ganzi Badwanne gfüllt mit Paninibildli,» hol i zum Vergliich us.
S Meitli macht grossi Auge und d Verchäuferin wirft i d Rundi, dass es jetzt für tuusigzweihundert Franke zum Verchauf staht.
«Wär’s möglich, dass ich dem Dromedar für weniger Gäld d Freiiheit chönnti schänke?», frög i naiv noche.
«Usgschlosse», seit d Verchäuferin sträng.
«Werum, chömed Sie suscht i d Chischte?», gang i all in. «Stress mit em Chef,» seid sie knapp.
«Prima. Denn lüütet Sie dem doch a. Erkläred Sie ihm, en junge Herr würd em’ne Dromedar gärn d Freiiheit schänke, nur hed er halt chli begränzti Mittel.»
Zerscht luegt d Verchäuferin ungläubig und nimmt denn de Hörer i d Hand. En churze Augeblick spöter leid sie uf, luegt mi mit em’ne Blick a, wo suscht nur Lüüt vo de Schmier ufsetzed, und seid: «Sibehundert Franke, drunder uf kei Fall.»

E dummi Moral isch das: chum händ die Erwachsene Problem, möched sie sich us em Staub
No bevor ich es Wort usebracht han, grätscht s Meitli dezwüsche und wett wüsse, öb das Dromedar jetzt i d Freiiheit chund oder nöd.
«Vill z tüür. Das gad nöd», säg i und chum mer füdledumm vor. Zum die Situation nöd no unnötig i d Längi z zieh, han i’s uf einisch pressant und verloh de Lade ratzfatz. Ohni Dromedar, defür mit em’ne saudoofe Gfühl.
D Nina und ich laufed d Hauptschtross entlang, won i uf de Höchi vom Iisstadion stah bliibe und zunere säg: «En dummi Moral isch das. Ich mein, was dänkt das Meitli jetzt? Chum händ Erwachsni Problem, möched sie sich us em Staub.» Sie gid mer rächt und frogt, öb’s en Plan gäb.
«So kompliziert isch es ja nöd. Mer bruuched nur füfedrissg Gottis und Göttis, wo zwänzg Stutz spänded und rädibutz hämmer das Dromedar befreiit.»
Da defür wäred Fotene vom Dromedar guet, meint d Nina. Und so stömmer denn wenig spöter wider im Lade, wo s Meitli vo vorher immer no d Spiilzüüg am beguetachte isch.
Ich stüüre uf s Meitli zue und verzell em vo üsem Iifall. Es isch begeischtered. Ganz andersch als d Verchäuferin, wo nach min’re Erklärig nur druf hiiwiist, dass s Dromedar no immer sibehundert Franke choschtet. Immerhin zeigt sie sich kooperativ und lod üs Fotene mache.
Mit dene mache mer üs uf e Heiwäg. Das heisst, d Nina macht sich uf e Heiwäg. Für mich gid’s no es Bier i dere Bar grad am Bahnhof, won i a anderne Täg sälber Bier usschänke tuen.
Am Barkeeper verzell i vom Dromedar, mim Befreiigsplan und frog, öb er Götti wärde will.
Zerscht luegt er ungläubig, taucht hinder em Trese ab undstreckt mer aschlüssend es Gurkeglas mit zwei Zwänzgernote entgäge.

Ich schwänke s’Gurkeglas hin und här: en edle Versuech unterstütz ich mit emene Batze
«Vo mir bechunsch vierzg Stutz. Aber das Dromedar chund do nöd id Hütte», seid er. Alles klar. Ich sitz as Fänschter und tipp d Gschicht vom Dromedar i mis Handy. Uf Instagram würd i nach Gottis und Göttis fische. D Bar füllt sich und ich überlege, öb i söll uf Nummer sicher gah. Ich mein, bi son’re Aaglägeheit nur uf s Internet z vertraue, wür d Mission am Änd no gfährde.
So quatsch i denn e Rundi vo Lüüt a und schwänke s Gurkeglas während em Verzelle hin und här. «En edle Versuech und drum unterstütz ich dich mit em’ne Batze», meint de eint mit em wisse Hömmli und rüehrt es Zwänzgernötli ine.
Und so gad’s wiiter. Obwohl die meischte Mänsche nöd dra glaubed, schmeissed’s ihres Gäld is Gurkeglas. Wie wänn sie nöd wännd tschuld sii, wänn’s wäg ihrne zwänzg Franke nöd würd klappe.
Won i uf mis Handy lueg, gsehn i einigi Nachrichte, wo inecho sind.
Wie mini Telefonnummere sigi, wäg em Twint, frögt eine, wo kei Bargäld debii hed. E Telefonnummere han i scho. Nur ebe kei Twint. Drum frog i de Barkiiper, öb i sini Nummere cha duregäh. Er chöng’s denn in bar is Gurkeglas rüehre. «Es isch jo nöd vill, ja, chasch d Nummere gäh», seid er.
Schön bödelet isch das Glas, won i’s nimme und us de Bar uf die anderi Strossesiite stürchle. Döt verschwind ich i d Chällerbar, stell dunne de Pot vor mich ane und bstell es Bügelspez. En churzi Erchlärig an Barkeeper vo de Chällerbar und er schmeisst sächzg Franke is Glas. Offizielle Goldsponser.

Befreiig voratriibe! D‘Chällerbar spoizt mich use, s’Händy surrt ununterbroche
D Ziit im Chäller unde zieht verbii, s Handy bliibt stumm und ich überlegge, wien i d Befreiig voratriibe chönnt.
Wo mich d Chällerbar i de Morgestunde usespoizt, surrt mis Händy ununterbroche. Es chund mer z Sinn, dass es mit em Empfang döt unde immer chli schwirig isch. Ich schriib allne Interessänte retour und gang zrugg i d Bar vom Aafang. De Barkeeper vergitzlet fascht und meint, dass nur no öppe drühundert Franke fähle würded. Er nimmt de Betrag, wo twintet worde isch us de Kasse, und ich heb s Gurkeglas ane.
Nach em’ne churze Update uf de soziale Medie god alles ruckzuck. Am halbi zwei am Morge sind achthundertfüfezwänzg Franke füfzg uf mim Konto. Ich trink no es Bier und mach mich uf e Heiwäg.
Am Morge am vieri merk i, das isch falsch: s’Kamel isch das mit zwei Höcker, s’Dromedar hed eine. Zweihundert Liter, das isch öppe e Badwanne
I dere Nacht träum i nöd vom Dromedar. Ich ligge hellwach im Bett und starre a d Tili. Es fühlt sich so a, als wüsst die ganzi Stadt vom Dromedar. Himmeltruurig, wänn’s mer am Änd no vor de Nase wäggschnappt würd. En Blamasch wär das. Und s Gäld? Das wär denn au e komplizierti Gschicht, das de Lüüt wider zrugg z gäh. Oder dörft i das denn eifach suscht noime spände? Es anders Tier chaufe? Ich stell de Wecker mehrmols und drülle d Läde ufe, dass d Sunne am Morge inezündet.
Am Morge am halbi vieri gang i uf Google und frög noche, wänn s Iichaufszenter ufmacht. Und wie vill es Dromedar uf einisch trinke chan. Zweihundert Liter, das isch öppe e Badwanne. Das isch aber nöd im Höcker gspeichered. Im Höcker speichered die Viicher Fett. Dromedar ghöred zu de Familie vo de Kamel. Sie sind afrikanischi Kamel. Au Alpakas sind Kamel. Eifach südamerkianischi. Wie d Lamas au. Sogenannti Neuwältkamel. Bis jetz han ich immer gmeint, s Kamel isch das mit zwei Höcker und s Dromedar das mit eim Höcker.
Das isch aber falsch, merk i am Morgen am vieri.
Punkt Viertel vor achti stahn i ällei mit mim Gurkeglas vor em Iichaufszentrum und gseh d Verchäuferin vo gester dur de Lade husche. D Türe gad pünktlich uf und ich stelle s Gurkeglas uf de Trese zum afo usezelle. D Verchäuferin macht debii es erstuunts Gsicht. «Mit em Auto da?», wett sie wüsse. «Cha nöd Autofahre, han aber zwei Händ und viil Ziit» säg i zun’re und leg die letscht Zähnernote uf d Ablag.

„It was in ä Prison, and nau it is frii“ stottere ich nume
Dass das mit de zwei Händ irgendwie kei Sinn gmacht hed, merk i churz drufabe, won i s Dromedar us em Schaufänschter lüpfe möcht. ‚S sind meh as drühundert Tafele Schoggi.
Mit em’ne Ruck bugglis uf d Schultere, loh mer vo de Verchäuferin d Türe ufhebe und mach mich uf de Heiwäg. De Hauptstross entlang wank i mit dem vill z schwäre Viich und ghöre Autos hupe, won i nöd gseh, will sich mini einti Gsichtshelfti an Höcker prässt.
Es isch Samschtigmorge nach de nüne und ich bi scho wider am Änd. E churzi Pause gönn i mer denn a de Chrüüzig, wo so nen fette Chlapf uf em Trottoir parkiert. Zwei Fraue sitzed dinne und lönd d Schiibe abe. Uf Änglisch froged’s mich, was i do mache. En Erchlärig uf das wär mer scho uf Düütsch schwär gfalle, aber uf Änglish, döt han i gar kei Druchblick. Mer händ jo immer nur über s Wätter gredet i de Schuel. Und d Farbe chan i au no. Aber zum en Befreiig vom’ne Dromedar z erchläre, fählt mer eifach s nötige Vokabular.
Und so stotter i nume: «It was in ä Prison, änd nau it is frii.»
D Auge vo dene beide Dame ziiled ab dere Antwort i all Richtige. Denn schlönd’s vor, dass ich’s uf Düütsch versueche söll, das würded’s auf verstah. Zmitzt uf de Chrüüzig verzell i also dene beide vo dere ganze Aktion und bechume, chum bin i fertig, en Chauffeurdienscht als Agebot.
En gueti Sach, dänk i mer. Bis mer merked, dass das Dromedar vill z gross isch. Au für de Riiseschlitte.
„Es Steiff“, seid die älteri Frau, „es Dromedar“, säg ich
Ich mach mich drum uf e Wäg zum nächste Bahnhof. Döt schlepp i s Dromedar d Stäge duruf uf s Perron und froge mich, öb i jetzt es Billet löse muess. Ich ha mich no nöd entschide, do spricht mich en älteri Frau a. «Es Steiff», seid sie und setzt en übertribnige Blick uf. «Es Dromedar», säg i zun’re und lös es Bilett. «Dänk d Marke, junge Burscht. Das isch es Steiff», fad sie mit ihrne Usfüehrige a. Und so erfahr i bim Warte, dass näbe mir de Rolls Royce under de Plüschtier staht.
Wo de Zug denn ifahrt, stuun i nöd schlächt. Pumpevolle am’ne Samschtigmorge. Ich drück s Dromedar in Waggon und sorge für vill Glächter. Ei Haltistell lang han i Ziit, zum de Lüüt verzelle, was do los isch. Uf Düütsch zum Glück.
Won i chli spöter us de Bahnhofshalle stolpere, surrt mis Handy im Hosesack. «Was god bi dier wider ab? Zwinkersmiley», schriibt e Bekannti. Es Bildli vo mir und em Dromedar hed sie au no gschickt. I dem Momänt realisier ich, dass mich das Dromedar no es Ziitli begleite chönnt. Us dere Nummere chunsch nüm so einfach use. Gueti Ussichte für en Samschtigmorge.
Von Katharina Lanfranconi
Silvester
und wieder ist dir bang
zur kleinen zeitenwende
die beinah birst
vor rezeptiertem
überschwang
dabei wird da
ein tisch sein, weiss
auf den ein dunkler
schatten mittig fällt,
ein halb geleertes glas
ein bild, das dich
behutsam durch die
letzten stunden dieses
jahres tragen wird
und schlafend
in ein neues
KL. 31. 12. 23.
Von Dominik Riedo, Schriftsteller und (noch) Verlagsleiter
Warum ich zum Verleger
geworden bin
Im Jahr 2022, mit 47 Jahren, bin ich zum Verleger geworden. Also eigentlich bin ich zum Verlagsleiter geworden. Das ist eine wichtige Unterscheidung – Sie werden sehen, warum.
Und das kam so:
Den Verlag Pro Libro gibt es in Luzern in seinen Vorformen seit den 1990er Jahren (als Buchreihe bei Verlagen), die eigentliche Gründung des so genannten Verlags war dann 2006. Peter Schulz leitete und besass ihn von der Gründung bis 2014, danach gab es etliche schnelle Wechsel und Gerangel, sowohl in der Leitung als auch beim Besitz. Schliesslich gehörte der Verlag im Januar 2022 der Verlagsleiterin, Therese Schilter-Oberli, die in jenem Monat völlig überraschend verstarb.
Nun würde man vielleicht denken, dass in so einem Fall unzählige Angebote an die Erben gegangen sein müssten, den Verlag zu übernehmen. Aber entweder hatte sich das noch nicht herumgesprochen oder – das ist eher meine Vermutung – es hat sich herumgesprochen, dass ein kleinerer Verlag nicht wahnsinnig lukrativ ist. Auf jeden Fall fand sich niemand, und die Erbengemeinschaft wollte den Verlag schlicht auflösen. Erst da meldete ich mich. Warum erst dann? Ich hoffte, dass es jemand anderes machen würde.
Denn wissen Sie, ich bin eigentlich nicht zum Verlagsleiter geboren. Ich schreibe ganz gerne und nenne mich seit 2003 Schriftsteller, seit 2007 bin ich es ausschliesslich – wenn man von den fünf Stellenprozenten absieht, die ich nun als Verleger arbeite. Warum fünf Stellenprozente, meinen Sie?
Das kam so: Eigentlich hätte ich den Verlag Pro Libro von der Erbengemeinschaft auf Anraten von Peter Schulz, der mir gewissermassen ein mündliches Fähigkeitszeugnis ausstellte, geschenkt haben können. Aber nachdem ich durchgerechnet hatte, was ein Lager für all die noch vorliegenden Bücher der Backlist kosten würde, was ein Finanzfachmann für die Steuererklärung Ende Jahr, was Druckkosten für neue Bücher und wie viel Gestalter haben müssen, damit sie sich nicht selbst ausbeuten, habe ich gesehen, dass das so nicht geht. Ich wäre im besten Fall finanziell gerade eben rausgekommen, im schlechteren Fall hätte ich jährlich 10’000 Franken Schulden gemacht. Und den schlimmsten Fall mochte ich mir nicht vorstellen.
Trotzdem liess es mein Kopf nicht zu, einen Verlag, den es bereits seit 16 Jahren gegeben hat und der alles in allem eine Backlist von etwa 100 Büchern vorweisen konnte, einfach eingehen zu lassen. Das Absterben des Verlags Wallimann und von Ars Pro Toto waren mir noch gut in Erinnerung (letzterer ist ja nun in anderer Form wiedererstanden). Die Zentralschweiz brauchte einfach weiterhin einen (nun eher) mittelgrossen Verlag, der Bücher bringen konnte, die sonst kaum verlegt würden.
Ich machte mich also auf die Suche nach einer Lösung. Und die war denkbar einfach: Ich nahm Kontakt zu diversen Schweizer Verlagshäusern auf und fragte sie, ob sie bereit wären, den Verlag Pro Libro zu kaufen, um ihn als Imprint zu führen und mich selbst – zumindest für eine Übergangszeit – als Verlagsleiter einzusetzen. Und tatsächlich gab es innert kürzester Zeit einen, der Ja sagte: Der Weber-Verlag, der zuvor etwa den Werd-Verlag von Zürich ganz geschluckt hatte, war dazu bereit.
Warum, mag man sich fragen, wenn doch die laufenden Kosten so hoch sein können? Aber das ist eben das Gute bei einer solchen Lösung, darum hatte ich danach gesucht: Bei einem bereits etablierten Verlag, vor allem bei der Grösse wie beim Weber-Verlag, bestehen Lagerkapazitäten sowieso. Der Weber-Verlag publiziert um die 120 Titel im Jahr, da fallen die Produkte des Imprint-Verlags nicht so sehr ins Gewicht. Dasselbe bei den Fachkräften: Er hat nicht nur Finanzexperten, sondern auch gleich Polygraphen, Gestalterinnen, Lektoren und Werbefachkräfte angestellt, alles in allem etwa 40 Mitarbeitende.
Das lässt auch mögliche Veröffentlichungen bei Pro Libro preiswerter aussehen. Wenn man Lektoren, Gestalterinnen und Polygraphinnen nach Preisen in house zahlen kann, also nicht derart viel, wie es bei externen Aufträgen kostet, sehen mögliche Buchprogramme gleich besser aus. So war es auch möglich, im ersten Programm seit dem Re-Start gleich sechs neue Buchtitel zu bringen, leicht mehr, als früher in einem ganzen Jahr. Denn jetzt als Imprint wird es jährlich zwei Programme geben, ein Frühlings- und ein Herbstprogramm. Mit je mindestens sechs neuen Titeln. Dazu sollen sich Nachdrucke von bereits vergriffenen Backlist-Büchern gesellen.
Alles in allem kann sich der Verlag so mehr als sehen lassen: Der Buchtitelausstoss, wenn ich ihn mal so nennen darf, ist mindestens drei Mal so hoch wie zuvor; dazu werden die Auflagen höher sein als bisher. Denn durch die Anbindung an Weber verfügt Pro Libro nun auch über Buchhandelsvertreter in Deutschland und der Schweiz, über eine riesige Liste von Mailadressen, über Werbemöglichkeiten, die alles Bisherige übersteigen, und auch über bessere Konditionen für die Kunden: Es wird schneller ausgeliefert werden können, dazu entstehen bei Lieferungen keine Versandkosten etc. usw.
Trotzdem überlege ich mir, nach den drei vertraglich vereinbarten Jahren (2022 bis 2024) als Verlagsleiter aufzuhören. Warum eigentlich, wenn es derart gut läuft? – Nun, wie gesagt, ich fühle mich vor allem als Schriftsteller berufen. Zwar als einer, der sich intensiv in die Kulturpolitik einmischt und immer schon auch Möglichkeiten zur Verbesserung des Kulturlebens allgemein gesucht hat, etwa durch die Erfindung des Labels «Kulturhauptstadt der Schweiz» (siehe kulturhauptstadtderschweiz.ch), aber eben doch hauptsächlich als Schriftsteller.
Aus dieser Perspektive hat es an sich von Anfang an wenig Sinn gemacht, mich auch noch als Verleger zu engagieren. Aber ein Punkt war mir eben wichtig: Die Erhaltung dieses Verlags Pro Libro für die Zentralschweiz. Hätte ich mich damals nicht bei den Erben gemeldet, wäre der Verlag nun abgewickelt und der Name einer jener vielen, die bereits nach kurzer Zeit wieder eingegangen sind. So aber besteht der Verlag nach meinem möglichen Abgang 2024 (vermutlich werde ich für die Buchakquise weiterhin mit zuständig bleiben) immerhin schon 18 Jahre, als Buchreihe sogar bereits 27 Jahre. Und die Gründung der Stiftung, die den Verlag in den Anfangsjahren unterstützt hat und spezifisch dafür geschaffen worden war, liegt dann bereits 33 Jahre zurück. Was alles in allem meint: Damit hat dieser zu Beginn eher kleinere Verlag, der jetzt als Imprint ein mittelgrosser Verlag wurde, auf Jahre hinaus noch gute Chancen, bestehen zu bleiben. Und wenn er nur noch fünf Jahre bestehen sollte, so hat er dann zumindest quasi ein Vierteljahrhundert bestanden, und das wäre immerhin etwas.
Die annähernd 200 Bücher, die dann veröffentlicht sein werden, dürften es dem Verlag danken. Und das Lesepublikum auch.
Von Bruno Bollinger
Die 68er
Über mutige Verteidiger des offenen Wortes im Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein

Als das Projekt zu diesem Buch im ISSV-Vorstand diskutiert wurde, erwachte mein Interesse nachzuforschen, wie 68 in den damaligen ISV einwirkte. Ich bin 2007 in den Verein aufgenommen worden, kenne also die hier beschriebene Zeit nur aus offiziellen Dokumenten. Und ehrlich gesagt, ich wusste 1968 auch nicht, dass es einen ISV gab.
Was 68 war und was es bedeutet, darüber sind unzählige Abhandlungen verfasst worden und werden es noch werden. Ich erlaube mir hier den Historiker Oliver Landolt zu zitieren, der es im Mitteilungsblatt des Historischen Vereins Zentralschweiz so beschreibt: «Die 68er-Bewegung steht für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch, der insbesondere die westliche Zivilisation erfasste. Durch diesen Aufbruch wurden Reformprozesse eingeleitet, welche als Langzeitfolge unsere Gesellschaft in verschiedenen Bereichen zentral umgestaltet haben. Der jugendliche Protest machte auch vor der damals gesellschaftlich wie politisch sehr konservativen Traditionen verhafteten Zentralschweiz nicht halt, sondern fand dort ebenfalls einen fruchtbaren Nährboden.»[1]
Im gleichen «Geschichtsfreund» wurde ich in einem Artikel von Jakob Tanner mit dem Titel «Die 68er-Bewegung als Symptom und Katalysator soziokulturellen Wandels» sogar zitiert: «Die Orientierung in der Gesellschaft machte sich an neuen Zeichen fest. Schriftzüge, Möbelstücke, Produktdesign, Kleidermode und Frisuren änderten sich. Eindrücklich schildert dies der in Zug aktive Bruno Bollinger. Am 1. Mai 1968 besuchte er noch in Mesocco (im südlichen Graubünden) die 2. Sekundarklasse. Anfang Juli kam er nach Zug, wo er beim Elektro-Unternehmen Landis & Gyr eine Anstellung als Ausläufer der internen Post hatte: ‹Ich war fünfzehn und von Gewerkschaften hatte ich keine Ahnung, und auch von Politik verstand ich nicht viel. Beeindruckt war ich aber von den Langhaarigen und von der Beat-Musik. Den Mai 68 hatte ich im Fernsehen gesehen. Gleich am ersten Tag, als ich in Zug ankam, sah ich einen mit langen Haaren, und gleich gefiel mir Zug besser.›»[2]
Der ISSV hiess 1968 noch ISV (Innerschweizer Schriftsteller Verein), und der Vorstand bestand aus Josef Konrad Scheuber (Präsident seit 1961), Arthur Müller (Vizepräsident), Fritz Ineichen (Kassier), Hedwig Bolliger (Aktuarin) und Julian Dillier (Archiv). Und die Aktuarin wurde bereits als «Aktuarin» bezeichnet, jedoch noch standesgemäss als «Fräulein» angeschrieben!
Im Vorstand war also jemand, der dem Geist von 68 zugeneigt war, Julian Dillier – aber darüber später in diesem Text. 68 fand ja nicht nur im Jahr 1968 statt. Viele 68er/innen waren da noch zu jung, um sich als Schriftstellerinnen oder Schriftsteller etablieren zu können. Und überhaupt, 68er/innen hatten keinen Bock auf Vereinsmeiereien. Dominik Brun erinnert sich, dass zum Beispiel Otto Marchi und Heinz Stalder sich weigerten, in diesen «Pfarrherrenverein» einzutreten.
Ich habe mich an die offiziellen ISSV-Dokumente gehalten. Ich weiss aber, als einer, der hunderte von Protokollen geschrieben und ebenso viele zur Geschichtsforschung gelesen hat, dass nicht immer alles in den Protokollen festgehalten wird, was an der Sitzung gesagt wurde. Ganz abgesehen davon, dass die informellen Diskussionen beim Glas Wein nach der Sitzung mehr über die «Mentalität» der Teilnehmenden aussagen würden.
Am 7. und 8. September 1968 fand in Chur eine Alpenländische Begegnung zum Thema «Rätoromanisch» statt, die vom ISV organisiert worden war. Der kurz davor erfolgte Einmarsch der sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei veranlasste die Anwesenden zu einer Solidaritätsbotschaft: «Dichter und Schriftsteller des Alpenraumes, die sich zum freien Gespräch in Bad Passugg bei Chur (Schweiz) zusammengefunden haben, entbieten Euch, freiheitsliebende Dichter und Schriftsteller des tschechoslowakischen Volkes, in Bewunderung und tiefer Verbundenheit Gruss und Handschlag. Mit eurem mutigen Kampf im Namen Eures Volkes habt Ihr für Menschenwürde und freies Menschentum eindrücklich Zeugnis abgelegt.»[3]
Da die Protokolle der ISV-Sitzungen im Jahr 1968 im Archiv fehlen, konnte ich nicht nachschauen, ob und wie im ISV die rebellierende Jugend oder der Aggressionskrieg der USA gegen das (nord-)vietnamesische Volk ebenfalls zur Kenntnis genommen wurden.
An der Tagung in Chur referierte ISV-Präsident Josef Konrad Scheuber: «Wo steht die Alpenländische Dichtung heute? Wie begegnet sie dem Auf- und Einbruch der Moderne? Wie können wir unsere Eigenart und Eigenständigkeit im Zeitalter ideeller Evolutionen und geistiger Weltrevolutionen behaupten?»[4] Die drei Fragen mussten zwar «unbeantwortet bleiben», sie deuteten jedoch darauf hin, dass Scheuber zumindest spürte, dass unruhige Zeiten anbrachen und Veränderungen im Gange waren.
Josef Konrad Scheuber war katholischer Priester, er wurde 1973 vom Benediktinerpater und Gymnasiallehrer Dr. Bruno Stephan Scherer als ISV-Präsident abgelöst. In den ISV-Vorstand wurden neu Augustin Zehnder als Kassier, Walter Käslin als Aktuar und Maria Simmen als Mitarbeiterin ISV-Archiv gewählt. Vom alten Vorstand war nur Julian Dillier geblieben, der nun Vizepräsident wurde.
Kulturkampf im Schweizerischen Schriftsteller-Verein (SSV)
1969 gab der Bundesrat im Rahmen der «Geistigen Landesverteidigung» einen Ratgeber über den zivilen Schutz des Landes heraus: Das sogenannte «Zivilverteidigungsbuch». Damit sollte die Widerstandskraft des Volkes gestärkt und die Unabhängigkeit der Schweiz gesichert werden. Verschiedene Kreise kritisierten das Zivilverteidigungsbuch heftig, da es Gruppen wie Gewerkschafter/innen, Intellektuelle, ausländische Personen und selbst Schauspieler/innen als potenzielle Verräter darstelle.
1970 übersetzte Maurice Zermatten, Oberst und Präsident des Schweizerischen Schriftsteller-Vereins (SSV), das «Zivilverteidigungsbuch» auf Französisch und verschärfte dieses in seiner reaktionären Ausrichtung. Beim SSV kam es zu heftigen Protesten. Ihrer Ansicht nach hatte das Buch eine antikommunistische Tendenz, wodurch alle linken Intellektuellen zu Landesverrätern gestempelt würden. In jenen Jahren war die Welt noch im Kalten Krieg, d. h. aufgeteilt in die Guten im Westen und die Bösen im Osten. Eine grosse Zahl von Autor/innen trat aus dem SSV aus und gründete 1971 die Autorengruppe Olten, kurz Gruppe Olten genannt.
Der ISV gehörte «laut alten und vorgeschlagenen neuen Statuten als Regionalverband» dem SSV an.[5] Aus den vorhandenen offiziellen Dokumenten ist nicht zu entnehmen, was der ISV-Vorstand zur Gruppe Olten meinte. Der ISV blieb jedenfalls in Kontakt mit dem SSV, der am 27./28. April 1974 seine ordentliche Mitgliederversammlung in Luzern abhielt. «Wir heissen ihn schon jetzt in der Innerschweiz willkommen», wurde im ISSV-Mitteilungsblatt verlautet.[6]
Deutlich Stellung nahm ISV-Mitglied Hans Kurmann, der am 7. Dezember 1976 im «Luzerner Tagblatt» von einer Buchvernissage vom 3. Dezember 1976 berichtete und kommentierte: «Noch wohnliche Welt. Wie manches heuer der mit Innerschweizer Tinte geschriebenen Bücher nähme der Geist der ‹Oltner Gruppe› an? Und wie mancher ihrer Autoren unseres Bodens sieht die Welt in zwei Klassen geteilt: in Kläger und Angeklagte? Die Mehrzahl der ISV-Mitglieder sieht die Welt noch reicher, bunter, ihre Heimat noch wohnlich – und deshalb bildet ihr Schrifttum schon fast einen Sonderfall. Warum sollte es nicht?»[7] 2002 löste sich die Gruppe Olten auf und ging in die AdS (Autorinnen und Autoren der Schweiz) über.
1979 löst Julian Dillier Bruno Stephan Scherrer als Präsident ab. Im Vorstand sind: Walter Kaeslin als Vizepräsident, Dominik Brun als Aktuar, Augustin Zehnder als Kassier und Maria Simmen als Bibliothekarin. Julian Dillier, schon seit 1967 im ISV-Vorstand, zuerst als Aktuar, dann als Vizepräsident, wird am 24. Oktober 1979 an der ISV-Jahresversammlung in Entlebuch als Präsident gewählt. In seiner Antrittsrede schlägt er deutliche Töne an: «Da Sie mich, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, als einen etwas aufmüpfigen, in unserem fragwürdigen Zeitalter und unserer veränderungsbedürftigen Gesellschaft nicht so ganz unkritischen Mitbürger kennen, verstehe ich diese Wahl auch als Auftrag, in unserer gemeinsamen Arbeit Zeichen des Widerstandes zu setzen und nicht alles hinzunehmen, was eine offizielle Meinung der Menge oder sogar hie und da die Mehrheit als richtig nominiert. Ich verstehe mein Mandat nicht wie ein Prestige, sogar nicht einmal präsidial. Ich möchte vielmehr Sprecher jener Anliegen sein, denen das ehrlich und wahrlich geäusserte Wort Prinzip ist. Ich möchte immer und immer wieder dartun, dass das ehrliche Wort des wahrheitsliebenden und gemeinschaftsverbundenen Schriftstellers wahrgenommen, überlegt und auch etwas mehr Achtung in der Öffentlichkeit verdient. Wir Schriftsteller wissen uns wie der Künstler und Musiker als Mitgestalter der Gemeinschaft. Unser Mitgestalten ist aber bar jeder materiellen Macht und Gewalt, bei uns kann nur der Einfluss unserer Creativität und die Macht des guten und wahren Wortes wirken. In diesem Sinne verstehe ich den Schriftsteller in unserer Zeit aber weniger als eine Art Hof-, Stadt- oder Heimatdichter, der die Regierenden unserer Tage, die Zustände in unserer Umwelt und den Fortschritt hinnimmt, bestätigt und hochpreist ohne jeden Vorbehalt, nur weil auf diese Weise Preise und Lorbeeren zu erwarten sind, sondern ich verstehe ihn als mutigen Verteidiger des offenen Wortes, der auch bereit ist, sich – wenn auch nicht in die Nesseln setzen zu lassen – so doch in die Nesseln der Wirklichkeit zu greifen, selbst auf die Gefahr hin, sich daran die Finger zu verbrennen.»[8]

ISV-Vorstand solidarisiert sich mit Hans Küng
1979 entzog die Deutsche Bischofskonferenz dem aus Sursee stammenden Schweizer Theologen Hans Küng die kirchliche Lehrbefugnis, weil er die päpstliche Unfehlbarkeit kritisch diskutierte. In der Schweiz und in Deutschland kam es zu Protestdemonstrationen, so auch in Luzern. Der ISV-Vorstand beschloss einen Protestbrief: «Sehr geehrte Herren Bischöfe, der Entzug der missio canonica für den in Tübingen lehrenden Schweizer Theologen Hans Küng, mit dem wir uns als Innerschweizer Autoren ganz besonders verbunden wissen, hat uns bestürzt und schmerzlich betroffen. […] Für unzählige aufrichtig suchende Menschen ist der Theologe Hans Küng ein Halt in stürmischer Zeit. Eine Kirche, die schöpferisches Suchen nach Wahrheit und Infragestellen von kirchlichen Erkenntnissen durch Verwaltungsentscheide verhindert, missachtet das Menschenrecht auf freies und ungehindertes wissenschaftliches Forschen. Die Missachtung von Menschenrechten aber beginnt nicht erst bei der körperlichen Folter, sondern bereits bei der Verweigerung eines geistigen Rechts. […] Aus dieser Sorge heraus bitten wir Sie als Innerschweizer Schriftsteller, darauf zu wirken, dass das Lehrverdikt der Glaubenskongregation neu überdacht und zurückgezogen wird. Für den Vorstand des ISV: Julian Dillier (Präsident), Walter Käslin (Vizepräsident), Maria Simmen, Augustin Zehnder und Dominik Brun».[9]
Bruno Stephan Scherrer reagierte differenziert auf den Vorstandsbeschluss: «Für den neuen Präsidenten und den Vorstand des ISV stellte sich nun die Frage, ob sie auch mit einer Stellungnahme an die Öffentlichkeit treten sollten. Julian Dillier und der neue Vorstand entschieden sich für einen ‹Offenen Brief des ISV an die Schweizer Bischöfe›, der hier abgedruckt wird. Der Titel müsste aber lauten: ‹Offener Brief des ISV-Vorstandes …›, denn die einzelnen Mitglieder des ISV konnten sich ja darüber nicht äussern. Vor allem möchte ich betonen (um so einige Zuschriften und Stimmen zu beruhigen), dass die beiden Vorgänger im ISV-Präsidium nicht angefragt wurden – absichtlich, wie mir Julian Dillier (am 7.1.80) schreibt, weil ich ‹als Ordensmann in der Entscheidung nicht ganz unabhängig gewesen› wäre. Es stimmt, ich selbst hätte mich als Seelsorger, der die Kirche liebt und der – in vielen Gesprächen und Briefen – das ganze Geschehen im ‹Fall Küng› als bedauerliche, schmerzliche und tragische Selbstzerfleischung der Kirche erlebt, äussern müssen. Der Schaden, vorab in der Jugend, ist gewaltig.»[10]
Alpnach Dorf im September 1987: Der ISV wird zum ISSV
Dominik Brun löst 1986 Julian Dillier als Präsident ab, Franz Züsli-Nicosi wird Aktuar, Augustin Zehnder bleibt Kassier, und Max Huwyler kommt neu in den Vorstand. Am 12. September 1987 reist die ISV-Gemeinde nach Alpnach Dorf, wo Dominik Brun seine erste Mitgliederversammlung leitet. Auch Franziska Greising ist dabei, die zwei Wochen davor folgenden Antrag eingereicht hatte: «Aenderung von Art. 1 der Statuten, und zwar soll der Innerschweizer Schriftstellerverein umbenannt werden in ‹Innerschweizer Schrifsteller- und Schrifstellerinnenverein›.»
Wie das an der Jahresversammlung aufgenommen wurde, hat Franz Züsli-Nicosi protokolliert: «Dominik Brun weist auf Art. 11 der Statuten hin, wonach Statutenänderungen einer Zweidrittelsmehrheit der Jahresversammlung bedürfen. Der Vorstand stimmt dem Antrag zu auch im Wissen, dass der Schweizer Schriftsteller-Verein einen ähnlich lautenden Antrag an seiner Generalversammlung angenommen hat. Die Diskussion zeigt, dass der Antrag nicht unbestritten ist. Insbesondere weibliche Mitglieder erklären in der Diskussion eine Aenderung der Vereinsbezeichnung als wenig notwendig und wenig dringend. Die erste Abstimmung muss wiederholt werden, da unklar ist, ob auch Nicht-Stimmberechtigte sich an der Abstimmung beteiligt haben. Die zweite Abstimmung ergibt eine statutenmässige Zweidrittelsmehrheit bei 8 Gegenstimmen und 1 Enthaltung.»[11] Laut Protokoll waren 50 Mitglieder und Gäste anwesend.
Mit der Feminisierung des Vereinsnamens kann festgehalten werden, dass 68 nach fast zwanzig Jahren auch im ISSV angekommen ist.

[1] Oliver Landolt, 1968 und die Zentralschweiz – einleitende Bemerkungen, in: Der Geschichtsfreund 172, 2019, S 5–8, hier S. 6.
[2] Jakob Tanner, «Winds of change» in den Voralpen: Die 68er-Bewegung als Symptom und Katalysator soziokulturellen Wandels in: Der Geschichtsfreund, 172, 2019, S. 9–21, hier S. 19.
[3] ISV-Mitteilungsblatt, Oktober 1968.
[4] Walter Zitzenbacher, Bericht der 5. Alpenländischen Schriftstellerbegegnung im Österreichischen Rundfunk, 16. September 1968.
[5] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1975.
[6] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1973.
[7] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1976.
[8] Antrittsrede Julian Dillier, ISV-Jahresversammlung, 24. Oktober 1979, Entlebuch.
[9] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1979.
[10] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1979.
[11] Protokoll der ISV-Jahresversammlung, 12. September 1987.
Der von Daniel Annen und Dominik Riedo herausgegebene Sammelband «Schneisen ins Heute» über die Geschichte des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins seit seiner Gründung 1943 kann bei Pro Libro bezogen werden.
Von Pirmin Meier
Über Romano Cuonz
Berichterstatter mit der Seele eines Poeten

Romano Cuonz (1945–2023) war als vielseitiger Autor profilierter Mitarbeiter des SRF-Regionaljournals Innerschweiz, Chronist und unvergleichlicher Kenner des Bürgenstocks und Meister des volkskundlichen Porträts wie wenige Autoren der alpinen Schweiz einem breiten Publikum bekannt. Für seine Person aber blieb er zurückhaltend, beinahe öffentlichkeitsscheu: «Mengisch chäma, was mä luit und allne sägä wet, numä lyyslig und fir sich dänkä.»
So kündigte er es «heimlifeiss» an für den Vermächtnisband «Tytsch und tyyttlich». Mit bewundernswerter Ausstrahlung las er im Oktober 2023 im Literaturhaus Stans dem Kollegium des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins aus Unveröffentlichtem vor. «D’Waaret wird hyyffig tänkd, aber sältä gsäid», wird da formuliert, über Politiker, welche «fuilä Chaartä äischter wider nyyw mischlid.» Er hatte sich vorgenommen, das, was für das Regionaljournal und die Zeitung offenbar nicht sagbar blieb, in literarischer Form doch noch unterzubringen. Wenn möglich noch vor dem Zuklappen des Sargdeckels. Es kam anders. Im Reich der Sehnsüchte des Autors und Poeten verblieb am Ende «Natuir» vor «Kultuir» und zumal Politik. Originalton des Siebzigjährigen, in einer Art Tagebuch des Pilzsammlers:
«Grosse Lust, in die Wälder zu gehen … Manchmal ist mir, ich sei selber ein Pilz. Dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich ans Licht gelangen möchte, nach langem, sehnlichem Warten in der Tiefe der Erde. […] Ich stosse gegen die von der Sonne gehärtete oberste Erdschicht und ich fühle, dass mir die Kraft fehlt, sie zu durchbrechen.» Die Sätze aus einem «Tagebuch der Sehnsucht» (2016), illustriert von seinen Künstlerfreunden Franz und Christian Bucher, zeigen uns den Autor Cuonz abseits gewohnter «Sachbezogenheit». Man kannte ihn als präzis und vielfach brillant formulierenden hochprofessionellen Reporter, auch als historischen Autor.
«Schräg in der Landschaft»
Jenseits des Epischen und nur vordergründig Zeitkritischen wurden tagebuchartige, auch aphoristische Aufzeichnungen mit «Texten, Mundartgedichten und Bildern» zu einer Form, womit der gebürtige Bündner zu seiner Vollendung als Porträtist einer «inneren Schweiz» gefunden hat. Nicht zufällig endet die auch autobiografische «Sehnsucht»-Studie mit einem Kapitel über Bruder Klaus. Zur Charakterisierung des Ranfts: «Verwaschen und abgeschliffen sind die alten Steine, immer tiefer sinken sie ab. Hier schwimmt man nicht gegen den Strom. Auch lässt man sich von der Strömung nicht flussabwärts treiben. Der Wildbach lehrt innezuhalten.» Der Text, im Ton von den beauftragten Spezialisten abgehoben, wäre dem vielstimmigen Jubiläumsband «Mystiker, Mittler, Mensch» (2017) als einer der trefflichsten sehr wohl angestanden. Aber Cuonz sah die Dinge offenbar «Schräg in der Landschaft», wie einer seiner Buchtitel, beim früh verstorbenen Verleger Martin Wallimann, nun mal lautete.
Sieben Jahre nach seinem gedruckten Pilztagebuch war Romano Cuonz abermals unterwegs zu seinem «Märchenpilz», nicht beim Ranft, aber auf weicherem Waldboden, wo der Verfasser, mit dem Pilzmesser in der Hand, am Vorabend des Tages des Pilgerheiligen Wendelin (19. Oktober) seine Poetenseele unversehens aushauchte. Das Handy hatte der Sammler in seinem Fahrzeug zurückgelassen. Weswegen die von seiner Gattin Ruth alarmierte Polizei den Entseelten erst in der Morgenfrühe dank Hund zu orten vermochte. So erwies sich ein Tagebuchtext über Pilze unverhofft als eine Übung zum «Sterbenlernen». Für den Griechen Platon war dies das Kerngeschäft des Philosophierens. Der Schreibende mit der dem Publikum bekannten Stimme wurde zum Propheten seines Schicksals.
Im Pilztagebuch ist noch die Rede von «freundlichen Waldmännlein, die ihre Geheimnisse sorgsam zu hüten wissen. […] Am Wanderweg findet der Sucher die schönen Pilze nicht. Über uns in den Bäumen schallen die perkussiven Töne: das Trommeln eines Spechtes, das heisere Lachen eines Tannenhähers, das Vibrieren, Knarren, Knacken, Ächzen von Ästen, wenn der Wind sie wie ein Xylophon bespielt. Wir gehen langsam. Wir bleiben oft stehen. Wir gucken auch zweimal hin. Wo Augen versagen, muss die Nase helfen. Wir robben und kriechen.» Und «[d]ie Suche ist das Erlebnis … das Sammeln die ernüchternde Genugtuung … der orange-rot leuchtende Blut-Reizker». Der Autor nimmt, wie der Titel des Kapitels verrät, den «Geruch nach Arvenholz» wahr: «Eine seltsame Harmonie von Daheimsein und Genuss.» Daheimsein! In «Tytsch und tyytlich» lesen wir, was der Verfasser im November 1988 seiner Gattin handschriftlich «in Liebe» gewidmet hatte: «Zittrige Värs firnä Liäbeserklärig: ä Bluemä mid Namä aredä.» Authentischer geht wohl kaum.
Natur und Menschen, oft in recherchierter Geschichtlichkeit: Romano Cuonz konnte es schildern. Nicht als Heimatschriftsteller, sein zeitkritisches Romanprojekt über Obwalden blieb Fragment. Aus seinen Schilderungen kam aber – oft überraschend – eine innerste Bewegung zum Vorschein. So wurde er, über den Reporter hinaus, ein bekennender Erzähler. Dann und wann geriet ihm das Beobachtete unter der Hand in Poesie. «Herbschtzaiber im Wald» übertitelte Romano (1988) seine Streifzüge in Wald und Busch: «Me wett nu einisch mid beedä Händ nach der Wermi gryfä», vertraute er seinem mit der Illustratorin Chantal Hug produzierten früheren Tagebuchband mit Mundartlyrik und volkskundlichen Porträts in Prosa an.
«Menschen mögen» – auch im Kulturwandel
«Man muss Menschen mögen.» Die Bundesrat-Ogi-Losung wurde bei einem neugierig gebliebenen Publizisten nicht «Führungsgrundsatz», eher schon Basis für vertieftes Verstehen. Mit gönnerhaftem «Verständnis» bei mildernden Umständen ist es nicht zu verwechseln. Sein 2002 veröffentlichtes Porträt eines Vogelfreundes aus Sarnen, des «Kronen-Leo», geriet zu einem unpathetischen Denkmal. Mag die Stimme des Dorforiginals längst verstummt sein: «Iär Vegel cheemid, cheemid!», gerufen auf dem Weg zur Fütterungsstelle beim Seefeld am Sarnersee, bleibt vormaligen Schülern des nahen Benediktinerkollegiums unvergesslich im Ohr. (Von uns Studenten wurde Leo dann und wann spöttisch nachgeahmt.) Im Kapitel «Schwanensee» des kunstvoll gestalteten Bandes «Veränderungen» kommt uns Leo, gescheiterter Kronenwirt, auch beim Servieren näher: Er «winkelte den Ellbogen an, wenn er Bestellungen aufnahm, hielt die rechte Hand zum Trichter geformt an sein Ohr. Er war schwerhörig. Regte er sich über irgendetwas auf, zog er beim Sprechen die Luft zwischen Zunge und Schneidezähnen ein, dabei entstand dieses zischende Geräusch, wie es Schwäne ausstossen, die sich bedroht fühlen.» Den fauchenden Vögeln rief er sein «Cheemid, cheemid!» entgegen, als wären sie die letztverbliebenen Freunde des vereinsamten Originals.
Unter «Veränderungen» versteht man volkskundlich einen Kulturwandel, bei dem kulturelle Substanz, menschliche Substanz, jenseits von Idealisierung oder Geringschätzung ein für alle Mal verloren scheint, es sei denn, ein aufmerksamer Chronist wisse es noch zu erzählen. So bei der Charakterschilderung eines heilkundigen Älplers im Kapitel «Heilkünste». Der Protagonist schwört auf den von ihm selber hergestellten Alpenkräuterschnaps Stai-Ruitä, allenfalls vergleichbar mit dem vom geistesverwandten Hanspeter Niederberger (1952–2000) geschilderten Kastenwasser aus der Hexenküche von Giswiler Bergbauern. Cuonz vollendete seine Aufzeichnung bei Betrachtung der Todesanzeige des scheinbar unverwüstlichen Endsechzigers. Die Heilpflanze, die dieser jeweils in seiner Hemdtasche verwahrte, wachse nur auf ein paar wenigen Felsbändern, wo die Sonne den ganzen Tag hinscheine. «Ich habe die Nase dafür, ich kann den starken Duft dieses Krautes noch von weitem riechen», verriet ihm der Älpler. Für die Aufforderung, daraus einen Magentee oder Tropfen zu produzieren, zeigte der von Cuonz virtuos Porträtierte kein Musikgehör. Er kenne zwar Rezepte, aber selber trinke er nur den Schnaps. «Und ich bin noch nie bei einem Doktor gewesen – noch nie!» So lebte und starb der Mann, wonach Cuonz Erfahrungen bei seiner Aufnahme in Luzerns Kantonsspital schildert, im Lift zusammengedrängte Menschen, die Bürokratie, der Fragebogen, das Einatmen und Ausatmen beim Röntgen. Der Professor, «der die Bilder liest, lässt sich nichts anmerken». Der Bericht, vom Patienten dannzumal nicht leicht zu verkraften, folge die Woche darauf per Post.
Wie Cuonz für einmal Petrarca zitierte
Für den an der Recherche orientierten Publizisten, auch vorzüglichen Lehrer, galt das Bekenntnis eines vorzüglichen Sachbuchautors der Aufklärung, Johann Georg Zimmermann (1728–1795) aus Brugg: «Meine eigene Seele würde ich hassen, wenn sie nicht eine rechte Dichterseele wäre.» Der von Lessing als vorzüglicher Stilist Gerühmte formulierte es in einem Essay über den Berner Gelehrten Albrecht von Haller. Der berühmte Alpendichter gehört zu den bei Cuonz nur sparsam zitierten Grössen der Weltliteratur, von dem es ihm aber der gekrönte Dichter Petrarca (14. Jahrhundert) als Leitfigur der Berghumanisten am meisten angetan hatte. Was Cuonz, der sich stets zu den «Kleinen» der Literatur gezählt hat, vom grossen Petrarca aber selbstbewusst zu zitieren wagte: «Nun aber packte es mich, endlich mal auszuführen, was ich jeden Tag schon ausführen wollte.» Für Cuonz war indes nicht der von der Tour de France längst eroberte Mont Ventoux zu besteigen. Aber er blieb lebenslang auf der Suche nach dem Märchenpilz, dem oben genannten Zentralmotiv in seinem späten «Tagebuch der Sehnsucht» (2016). Seine persönlichsten Texte, auch aus dem Band «Wenn d Sunnä durä Näbel schynd» deuten darauf hin, dass der durch beträchtliche Sprachkraft ausgezeichnete Sachbuchautor sich mit gebotener Zurückhaltung die Tür zur Poesie stets offenhielt. Den Weg zu sich selber aber suchte er stets über den genauen Umgang mit den Dingen.
«Los emou de Cuonz» (André Schürmann)
Zu den Besonderheiten des auf den Regional- und Lokaljournalismus gelegentlich reduzierten Autors gehören die Zusammenschau der bündnerisch-rätoromanischen Herkunft wie das gedoppelte Nebeneinander zwischen Mundart und deutschschweizerischer Standard-Sprache. Nicht zu vergessen den Bildungshintergrund, zu dem Chur und Arth-Goldau ebenso gehörten wie das Kollegium Sarnen und das Zuger Lehrerseminar St. Michael. Noch stärker als mit der religiösen «Kultuir» der Obwaldner Wahlheimat war er vom Naturalienkabinett des Kollegiums Sarnen (Pater Ludwig Knüsel) angetan, einem vom genialen Pater Emanuel Scherer einst begründeten «Schlüssel» zur Fauna und Flora des Kantons, den reichen Schatz der Flurnamen inbegriffen.
Über frühe Weggefährten wie Karl Imfeld, poetisch inspirierter Volkskundler und Verfasser des Obwaldner Mundart-Wörterbuches, die Autoren und Radiomänner Julian Dillier und Geri Dillier erhielt Romano Cuonz aus der jüngeren Generation noch in seinem letzten Lebensjahr hohe Anerkennung durch den Luzerner Literaturvermittler André Schürmann: Sein Hinweis «Les emou de Gotthäuf. Los emou de Gotthäuf», wird im Jubiläumsband der Innerschweizer Autorschaft zum 80. Gedenkjahr ihrer Organisation ISSV im Band «Schneisen ins Heute» (2023) mit dem Hinweis ergänzt: «Ond los emou de Dillier, de Cuonz, de Raeber und de Lienert.» Ist diese Einordnung in die Literaturgeschichte der Zentralschweiz gewagt?
Meinrad Lienert (1865–1933) entfaltete sich noch vor Meinrad Inglin (1893–1971) als ein Schwyzer Altmeister, der sich für Ausflüge in den Dialekt nicht zu schade war, wie überraschend auch nicht der ultramoderne Luzerner Kuno Raeber (1922–1992). Julian Dillier (1922–2001), von dem sich Cuonz auf dem Weg zur Poesie wesentlich anregen liess, war um die Jahrtausendwende der drittletzte Träger des Innerschweizer Kulturpreises als Literaturpreis. Für die Innerschweiz galt Dillier als Erneuerer der Mundart-Lyrik unweit Kurt Marti, Mani Matter und Franz Hohler. Wie Lienert und Raeber war Dillier in städtische Gefilde (nach Basel) abgewandert, über sein Medium, damals via Beromünster im Äther, repräsentierte er ein Mass der in der Zentralschweiz anerkannten Meisterschaft. Er war es auch, der Romano Cuonz als «Expressionisten der Obwaldner Mundart» zu rühmen wusste, dem jungen Kollegen sprachliche Präzision und kritisches Potential attestierte. Dies zu einer Zeit, da eine frühere traditionell orientierte Mundartliteratur manchmal allzu pauschal mit dem Kitsch des «bluemete Trögli» gleichgesetzt wurde.
Der postum publizierte, mit denkwürdigen Aphorismen und präzisen Beobachtungen reichhaltig ausgestattete Band «Tytsch und tyyttlich» stellt als späte Lebensernte das Ende einer langen Gedankenkette dar, vielfältige Erfahrungen widerspiegelnd. Vor uns liegt einiges vom Gehalt eines Lebens, das weder im Schulzimmer noch in der Redaktionsstube, wo der Verfasser seinerseits Massstäbe zu setzen wusste, Erfüllung fand. Als Berichterstatter ländlicher Verhältnisse – oft gehalten im Kleinen und Kleinsten –, zeigte Romano Cuonz in Standardwerken zum Bürgenstock einschliesslich europaweit ausgreifender Hotelgeschichte, aber auch mit Ausblicken nach Afrika und Asien, Perspektiven eines «Weltüberblickers» (Zuname des Obwaldner Autors und «Käspredigers» Josef Ignaz von Ah, 1834–1896) mit präzise erfasstem lokalem Hintergrund bei weitem Horizont, wozu man nicht zwingend NZZ-Autor zu sein brauchte. Kein Geringerer als Hölderlin sah im «Gehaltenwerden im Kleinen» (Hyperion) eine Basis für Perspektiven in das Grosse. Romano Cuonz ging als Familienmensch, Lehrer, Publizist und vielfach begnadeter Autor mit sachtem Schritt durch die Welt, damit nicht etwa noch ein Pilz oder gar ein Buschwindröschen zertreten werde.
Von Judith Stadlin
Zwoi Teenager im Bus
Ich starre im ÖV mängisch nid ufs Handy. Ich lose defür gärn echli umenand, wie d Lüüt mitenand redid.
Im letschte Herbscht han i z Zug im Bus, wo diräkt a d Herbschtmäss usefahrt, zwoi Jugendlichi ghört.
S Meitli strahlt de jungi Maa aa.
Si frogt:
«Was machsch am Wuchenändi?»
Er zuckt mit de Achsle:
«Am Samschtig Sport.»
Si hoogget noche:
«Und am Sunntig?»
Er, liecht verschmäukt:
«Ich bi Minischtrant.»
Si:
«Was? Hä?»
Er:
«Ähm, ich bi Mässdiener.»
Si:
«Voll geil! A de Zuger Mäss?! Ich chume verby, Mann!»
Von Trudi von Fellenberg-Bitzi
Wir Kinder vom «Welttheater»
Interview mit ISSV-Mitglied Karl Hensler
Als Kinder haben wir auf der Matratze «Welttheater» gespielt. Der Hut des Vaters war die Krone, die Wolldecke der Purpur des Königs.
Am 11. Juni 2024 um 20.45 Uhr findet auf dem Klosterplatz in Einsiedeln zum 17. Mal die Premiere des Welttheaters statt. Für das 100-Jahr-Jubiläum seit der ersten Aufführung hat die Welttheatergesellschaft den Autor und Georg-Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss sowie den Regisseur Livio Andreina mit der Realisierung beauftragt.
Das ganze Spielvolk, über 500 Mitwirkende – Männer, Frauen, Kinder aus dem Klosterdorf – gehören seit Jahrzehnten dazu. Für manche eine Lebensaufgabe, die sich in verschiedenen Rollen durch viele Spielperioden ziehen kann.
ISSV-Mitglied Karl Hensler kennt Geschichte, Rollen, verschiedene Regisseure, Texte, Tanz und Chor und weiss darüber unglaublich viel zu erzählen.
Über Karl Hensler
Karl Hensler, 1941 in Einsiedeln geboren und aufgewachsen. Als gelernter Buchdrucker (später Offsetdrucker) arbeitete er von 1985 bis 2001 in der Bogenmontage der Zürichsee Druckerei in Stäfa. Über dreissigjährige Mitgliedschaft bei der Feuerwehr, dem Männerchor und beim kantonalen historischen Verein. Freier Mitarbeiter beim Einsiedler Anzeiger. Ab 1987 literarisch tätig und seit 1996 Mitglied beim ISSV. Karl Hensler ist Vater von zwei erwachsenen Kindern. Er lebt mit seiner Partnerin Barbara in Einsiedeln.Am 21. April 2024, um 11 Uhr, erzählt Karl Hensler – anlässlich des Schwyzer Kulturwochenendes im «CafeLaden» Schwyz – über Erfahrungen und Erlebnisse aus seiner rund 60-jährigen Aktivzeit beim Welttheater.
«Streift ab die Masken, misstrauet der Macht, lasst dienen das Wissen, verströmet die Liebe, sucht euer selbst und werft es zur Saat aus.»
Trudi von Fellenberg-Bitzi: Wo wirst du am 11. Juni 2024 sein?
Karl Hensler: Als Ehrenmitglied erhalte ich in der Regel zwei Freikarten.
Wie bist Du zur Ehrenmitgliedschaft gekommen?
Das ist eine lange Geschichte. Die ganze Familie, auch unsere Verwandten, waren immer dabei. Es begann 1924, als das Welttheater zum ersten Mal aufgeführt wurde. Bereits da wirkte mein Vater als «Königstrompeter», die Mutter als «Singengel». Ab 1930 bis 1965 spielte mein Onkel Toni siebenmal die Rolle des «Bettlers», ein anderer Onkel jene des «dominierenden Meisters», sein Sohn jene des «Königs», meine Patin jene der «Weisheit», eine Cousine die stumme Rolle der Einsiedler Mutter Gottes, meine Schwester die Hauptrolle als «Schönheit», mein Bruder dreimal die «Rolle des Bauern», später jene des «Königs» und so weiter und so fort. Andere Geschwister agierten in verschiedenen Statistenrollen oder spielten Musik … So könnte ich noch viel aufzählen. In diese Familie und Welt wurde ich hineingeboren. Als Kinder haben wir auf der Matratze «Welttheater» gespielt, der Hut des Vaters war die Krone, die Wolldecke der Purpur des Königs. Ich bin mit dem Welttheater aufgewachsen und alt geworden.
In diese Familie und in diese Welt wurde ich hineingeboren.
Es ist eine lange Geschichte.
Das ist aber noch nicht dein Verdienst als Ehrenmitglied?
Als meine Schwester 1950 den Solistenpart «der Schönheit» spielen durfte, erwachte in mir der Wunsch, selbst eine Hauptrolle spielen zu dürfen. Mit 14 Jahren startete ich 1955 als «Bettlerjunge» und 1960 sang ich in den Reihen des «Reichenchors». 1964 prüfte mich Erwin Kohlund, der Regie führte, ob ich für eine Solistenrolle geeignet wäre. Ich bewährte mich und wurde so in den Jahren 1965/70 in die Rolle des Bauern eingeführt. Dass ich diese auch unter der Spielleitung von Dieter Bitterli in den Jahren 1987 und 1992 erneut spielen durfte, erfüllte mich mit grosser Freude. Eine spezielle Herausforderung war für mich die Darstellung des «Überflusses» in der Inszenierung von Hansgerd Kübel 1981. Zur Saison 2000 schrieb Thomas Hürlimann eine Fassung, die der damaligen Aktualität entsprach. Sie wurde mit der Inszenierung von Volker Hesse zu einem speziellen Erlebnis, für Zuschauer und Spielende. Ich werde nie vergessen, wie mich der Regisseur hartnäckig auf die kontroverse Rolle des «dicken Scholars», eine Art Wanderprediger, vorbereitete.
2007 erlaubte meine Gesundheit nur noch eine kleine Rolle und 2013, in der Inszenierung von Beat Fäh, stand ich in einer Statistenrolle und ohne Text auf dem Platz, aber der Spielvirus war da und wird es wohl immer bleiben.
58 Jahre mitwirken im Welttheater
und eine unveränderte Spiellust
Du hast also während rund 58 Jahren in jeder Saison mitgewirkt?
Ja. Und so wurde ich zum Ehrenmitglied. Das Welttheater hatte viel Gewicht in meiner 60-jährigen, kulturellen Tätigkeit. Zudem brachten mir die Vorbereitungen und Einsätze die deutsche Sprache auf eine spezielle Art und Weise näher.
Was faszinierte dich?
Das Stück wird so aufgeführt, dass das Volk versteht, um was es geht.
Um was geht es?
Calderon verfasste das Stück auf der Basis vom Leben und Sterben des Menschen am Beispiel verschiedener Figuren, wie zum Beispiel dem König, dem Bauer, der Schönheit, der Weisheit (Nonne) und dem Bettler. Der Schlusspunkt gehört dem Meister, welcher beurteilt, wie die Menschen ihr Leben gestaltet haben in den verschiedenen Figuren.
Weisst du schon etwas zum aktuellen Spielplan?
Ja, dank dem guten Kontakt zu Lukas Bärfuss. Es gibt ein Vorspiel, die Durchsage auf Englisch, Spanisch und Deutsch sagt: «Das Spiel findet nicht statt.» Doch die Kinder Emanuela und Paolo rufen: «Wir wollen spielen!» Mehr will ich nicht verraten…
Kein Spiel für die Kinder
Dass seine Kinder der Tradition nicht folgen und sich nicht aktiv am Welttheater beteiligen, betrübt Karl Hensler nicht. «Das ist der Zeitenlauf», sagt er. Tochter und Sohn wohnen mit ihren Familien nicht im Klosterdorf.
Die Leute vor Ort fragen ihn, ob er wieder spiele. «Nein, ich spiele, spreche und singe nicht mehr.» Es sei jedoch möglich, dass er für das Publikum Spieleinführungen mache, erzählt er.
Mit dem Textbuch in der Hand verfolgt er die Proben. Die Texte habe er nie auswendig, sondern immer inwendig gesprochen und beherrsche sie bis heute.
Karl Hensler:
Das Welttheater sein Leben. Einsiedeln seine Heimat.
Am 21. April 2024, um 11 Uhr, erzählt Karl Hensler – anlässlich des Schwyzer Kulturwochenendes im «CafeLaden» Schwyz – über Erfahrungen und Erlebnisse aus seiner rund 60-jährigen Aktivzeit beim Welttheater.