
Von Tobias Urech, Historiker & Doktorand Universität Basel
Von zwei Freundinnen,
die einander mehr liebten
als das Leben
Im literarischen Nachlass von Cécile Lauber schlummerte lange Zeit verborgen das Fragment eines unveröffentlichten Novellen-Manuskripts, [8] das von der «Liebe zwischen zwei (arabischen) Frauen» handelt, «die miteinander in den Tod gehen, lieber als sich zu trennen». So zumindest schrieb es Lauber 1937 in einem Brief an ihre Freundin, die Frauenrechtlerin und Journalistin Agnes Debrit-Vogel aus Bern. [9] Gewidmet war die Geschichte der Empfängerin des Briefes selbst, wie Lauber unmissverständlich klarmachte: Diese «Liebesgeschichte […] soll dann die Deine sein». Was hat es mit dieser Novelle, ihrem Thema und Schauplatz auf sich? Und wieso ist der Text mit dieser innigen, ja romantischen Freundschaft zwischen Cécile Lauber und Agnes Debrit-Vogel aufs Engste verbunden? Diesen Fragen soll hier nachgegangen werden.
Die Arabische Novelle, wie Lauber sie in ihrem Briefwechsel mit ihrer Freundin stets nannte, spielt in einem märchenhaft verklärten Orient und zu einer Zeit, die bereits in den 1930er Jahren der Vergangenheit angehören musste. Im Zentrum der kurzen Erzählung stehen zwei Frauen, El Rih, die burschikose Hauptfrau des reichen Arabers Sidi Ben Souk, und El Khadra, seine neue Nebenfrau. Die Geschichte beginnt damit, dass El Khadra nach der Hochzeit mit Ben Souk im gemeinsamen Heim ankommt. El Rih ist wahnsinnig eifersüchtig auf die neue Nebenbuhlerin, obwohl sich El Khadra ihr von Beginn weg unterordnet und keinen Anlass zur Eifersucht bietet. Lauber schildert die beiden Frauen in vielerlei Hinsicht als komplette Gegenteile: El Rih sei «auf dem Rücken der Pferde aufgewachsen, von Männern umgeben[,] solange sie Kind war». [10] El Khadra hingegen wird als ausnehmend zart und schön beschrieben. Sie lässt sich einen Webstuhl ins Zimmer stellen, um sich der «Frauenarbeit» zu widmen, was ihr von El Rih wiederum noch mehr Verachtung einträgt. Beim gemeinsamen Ballspielen verletzt El Rih ihre vermeintliche Nebenbuhlerin mit voller Absicht im Gesicht. Als El Rih dann doch vom schlechten Gewissen geplagt wird, besucht sie die Versehrte am Abend in ihrem Zimmer. Sie entdeckt betroffen, dass El Khadra eine Narbe davontragen wird. Diese fragt El Rih darauf:
«‹Findest du mich hässlich? Liebst du mich nicht mehr?› Die Frage verwirrte El Rih: ‹Es geht doch nicht um mich›, sagte sie antwortend und versuchte zu lächeln. ‹Denkst du nicht an den Sidi?› El Khadra schüttelte bedeutsam den Kopf.
‹Du liebst ihn nicht?› fragte El Rih nach einiger Zeit und ihr Herz klopfte fühlbar in den Pulsen ihrer Hand. ‹Ich liebe in diesem dunklen Hause nur dich, nur dich allein und deine Schönheit›, flüsterte El Khadra und schlang mit stummem Jubel ihre Arme um den Nacken der neu gewonnenen Freundin.» [11]
El Rihs Zorn und ihre Eifersucht schlagen daraufhin in Liebe um. Diese «Freundschaft» wächst «zu einem Garten des Paradieses» [12] und die beiden verbringen fortan jeden möglichen Augenblick zusammen. Die Frauen entfremden sich vom gemeinsamen Gatten, Sidi Ben Souk. Dieser beäugt die Entwicklung argwöhnisch und beschliesst, als er hinter die Liebe der beiden Frauen kommt, sie zu trennen und El Khadra zurück zu ihren Eltern zu schicken. Damit endet das Fragment. Warum Lauber die Novelle nie vollendete und zur Veröffentlichung brachte, bleibt im Dunkeln. Es lässt sich mutmassen, dass eine Novelle mit arabischem Thema nicht mehr so gut zur geistigen Landesverteidigung passen wollte. Zudem widmete sich Lauber in den Kriegs- und frühen Nachkriegsjahren fast gänzlich einem ihrer grossen Werke, dem mehrbändigen Jugendbuch «Land deiner Mutter». Andere Projekte verschwanden derweil in der Schublade.
Dennoch wissen wir aus dem eingangs zitierten Brief Laubers an Debrit-Vogel, dass die Geschichte hätte tragisch enden sollen: Die beiden Frauen lassen sich nicht trennen und beschliessen, «gemeinsam […] in die Wüste [zu fliehen] und […] die Pferde der Suchenden an der Höhle vorüberrasen [zu lassen], in der sie sich verborgen halten, das gemeinsame Verschmachten vorziehend einer Trennung». [13] So viel zur Novelle und ihrem Inhalt. Doch inwiefern ist diese Geschichte mit der innigen Freundschaft Laubers zu Debrit-Vogel verknüpft? Dafür müssen wir auf den Anfang dieser Beziehung schauen, die sich im Frühling 1932 zu entfalten beginnt und erst mit dem Tod von Debrit-Vogel im Jahr 1974 endet.
«Ich bin voller Zärtlichkeit für Dich,
mein liebes, unersetzliches Sternchen»
Lauber und Debrit-Vogel haben sich im März 1932 in Algerien kennengelernt. Debrit-Vogel organisierte für den Schweizerischen Verband für Frauenstimmrecht eine Reise zum Kongress der Frauen der Mittelmeerländer, wo die Schweizer*innen als Gastdelegation teilnahmen. Lauber, die Mitglied des Luzerner Vereins für Frauenbestrebungen war, [14] schloss sich dieser Reise an. Nordafrika hinterliess bei Lauber grossen Eindruck. In einem Reisebericht, der wenige Wochen nach ihrer Rückkehr in Debrit-Vogels Frauen-Zeitung Berna erschien, zeichnete Lauber Algerien als einen Ort der paradiesischen Ursprünglichkeit. Während Europa «ausgehöhlt und verbogen» sei, «weit vom Schöpfungstage wegverloren», sei «Afrika […] noch keine drei Tage von der Schöpfung entfernt» und stehe «noch so urmässig da, wie Gott es aus seinen Kammern der Ewigkeit entlassen hat». [15] Doch nicht nur Algerien machte Lauber grossen Eindruck – auch von der neugewonnenen Freundin Agnes Debrit-Vogel war sie ganz angetan. In einem Brief an ihren Mann, den Bundesrichter Werner Lauber, schrieb sie noch während ihrer Reise ganz unbefangen: «[I]n Frau Dr. Debrit habe ich mich richtig verliebt.» [16] Diese Liebe sollte andauern: Über 350 Briefen, Postkarten, Zettelchen von Lauber an Debrit-Vogel sind für die nachfolgenden Jahrzehnte überliefert. Sie belegen die innige Freundschaft der beiden Frauen und deuten auf eine romantische Dimension hin. Dies beginnt schon mit den Kosenamen. Lauber nannte ihre Freundin stets «Sternchen» [17] und unterzeichnete selbst oft mit «Dein Garten»: «Ich bin Dein Garten und blühe ganz geheim, ganz im stillsten Winkel für Dich mit vielen Rosen», wie sie 1938 schrieb. [18] Nicht selten klingt ein homoerotisches Begehren an, denn die Briefe handeln von körperlicher Nähe. So schickte Lauber der Freundin zuweilen «ein Streicheln der Hände» [19] oder gab ihr ein «feuerrotes Schmützli aufs Ohrläppchen» [20] oder schickte einen Kuss – auf die «viel zu arbeitsamen kleinen Hände», [21] «auf deine Sternchenaugen», [22] «auf Deine liebe Stirne», [23] «auf Deine weichen Wangen und auf den Hals gerade da, wo die kleinen Härchen beginnen» [24] – oder auch «mehr als eine[n] Kuss», [25] sie küsste die Freundin «siebenfach», [26] zuweilen sogar «überall wo Du schön bist», [27] oder sandte «einen Kuss in alter Weise und […] einen kleinen Biss ins Ohrläppchen, Dein Garten». [28]
Möglichkeitsräume
Gleichgeschlechtliche Liebe und homoerotisches Begehren war im 20. Jahrhundert lange Zeit gesellschaftlich geächtet und wurde geahndet. Trotzdem fand Laubers und Debrit-Vogels Freundschaft in zweierlei Hinsicht einen Möglichkeitsraum: zum einen im imaginierten Orient – durch die beiden arabischen Frauen –, zum anderen in der Beziehungsform Freundschaft im realen Leben. Im imaginierten, mystisch aufgeladenen Orient wurde eine Liebe möglich, die einen Zauber innehat, der die «zarte Liebkosung einer Frauenhand dem flammenden Sturm der Mannesliebe» vorziehen lässt. [29] Abgesehen davon, dass sich die beiden Frauen in Algerien kennengelernt haben, spricht noch etwas anderes für die Wahl dieses Schauplatzes: In Europa, das in der Neuzeit durchsetzt war von Orientfantasien, attestierte man dem ‹Morgenland› einen offeneren, zuweilen frivolen Umgang mit Liebe und Sexualität. [30] So kritisch die kitschigen und kolonialen Orientvorstellungen auch betrachtet werden müssen, ist es doch bemerkenswert, dass Lauber ausgerechnet diesen Ort, der für sie «keine drei Tage von der Schöpfung entfernt» war und somit dem Paradies ganz nahestand, als Schauplatz wählte.
Doch auch im realen Leben fand das Begehren der beiden seinen Platz: nämlich in der Beziehungsform Freundschaft. Gerade weil die Freundschaft als Beziehungsform viel offener war als andere Beziehungsformen (und heute noch ist), bildete sie oft den Rahmen für gleichgeschlechtliche Liebe. So sind für den Beginn des 20. Jahrhunderts viele Freundinnenpaare in der Frauenbewegung überliefert, die ein Leben lang zusammenlebten. [31] In der Freundschaft konnte die Liebe bestehen – und dies neben den jeweiligen Ehen und dem Familienleben der beiden Frauen. Darum ist es wohl gar nicht so interessant, die Frage nach der sexuellen Identität zu stellen. Vielmehr lohnt es sich herauszufinden, welche Möglichkeiten die «Freundschaft als Lebensform» [32] den beiden Frauen bot.
Die fiktionale Arabische Novelle und ihre Verknüpfung mit der realen Freundschaft Lauber/Debrit-Vogel sind ein aussergewöhnliches Zeugnis dafür, wie gleichgeschlechtliche Liebe in der Vergangenheit lebbar wurde und wie sie fernab gesellschaftlicher Konventionen auf anderen Wegen mäandrierte als jenen, die wir heute zu kennen glauben. Diesen Wegen zu folgen und ihre Spuren zu lesen kann uns auch einiges darüber sagen, wie wir heute Liebe, Freundschaft und Homosexualität verstehen und unsere eigenen Gewissheiten produktiv herausfordern.
[8] Lauber, Cécile: Arabische Novelle, Fragment, 1938,in: Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Ms.N.16.30.1, S. 1.; Der Titel dieses Texts bezieht sich auf den ersten Satz des Fragments, das auf der gegenüberliegenden Seite abgedruckt ist.
[9] Cécile Lauber (CL) an Agnes Debrit-Vogel (ADV), 12. Januar 1937, in: Archiv der Gosteli-Stiftung, AGoF 530:6:21-06.
[10] Lauber 1938, S. 5.
[11] Ebd., S. 10.
[12] Ebd., S. 11.
[13] CL an ADV, 12. Januar 1937, in: AGoF 530:6:21-06.
[14] Verein für Frauenbestrebungen (Hg.): Verein für Frauenbestrebungen 1921–1931, Luzern 1931. Vielen Dank an Dr. Silvia Hess für den Hinweis!
[15] Lauber, Cécile: Afrika, in: Frauen-Zeitung Berna, 15. April 1932, S. 239–240.
[16] CL an Werner Lauber, 28. März 1932, in: ZHB Luzern, Ms.N.126.B.1.
[17] Z. B. in folgendem Brief, aus dem auch das Zitat für den Zwischentitel stammt: CL an ADV, 23. Juni 1936, in: AGoF 530:6:21-05.
[18] CL an ADV, 2. Juni 1938, in: AGoF 530:6:21-07.
[19] CL an ADV, [undatiert], in: AGoF 530:29:21-20.
[20] CL an ADV, 15. Januar 1935, in: AGoF 530:6:21.04.
[21] CL an ADV, 23. April 1935, in: AGoF 530:6:21-04.
[22] CL an ADV, 14. Dezember 1935, in: AGoF 530:6:21-04.
[23] CL an ADV, [undatiert], in: AGoF 530:29:21-20.
[24] CL an ADV, 8. März [ohne Jahr], in: AGoF 530:29:21-20.
[25] CL an ADV, 16. April 1935, in: AGoF 530:6:21-04. Hervorhebung TU.
[26] CL an ADV, 30. Oktober [1933], in: AGoF 530:29:21-20.
[27] CL an ADV, 21. März 1936, in: AGoF 530:6:21-05.
[28] CL an ADV, 23. Oktober [1938], in: AGoF 530:29:21-20. Die Zitatcollage ist in ähnlicher Form bereits in folgender Publikation erschienen: Urech, Tobias: Freundschaft als Liebe. Die Korrespondenz zwischen Agnes Debrit-Vogel und Cécile Lauber, in: Gosteli-Stiftung (Hg.): Frauengeschichte im Archiv. Zum 40. Geburtstag der Gosteli-Stiftung, Wettingen 2024, S. 42–45.
[29] Lauber 1938, S. 1.
[30] Vgl. dazu: Hoad, Neville: Arrested development or the queerness of savages. Resisting evolutionary narratives of difference, in: Postcolonial Studies 3 (2), 07.2000, S. 133–158; Bleys, Rudi: Homosexual Exile. The Textuality of the Imaginary Paradise, 1800–1900, in: Journal of Homosexuality 25 (1–2), 17.11.1993, S. 165–182. Klassisch zum Orientalismus im Allgemeinen: Said, Edward W.: Orientalism, New York 1979.
[31] Vgl. Heinrich, Elisa: Intim und respektabel. Homosexualität und Freundinnenschaft in der deutschen Frauenbewegung um 1900, Göttingen 2022.
[32] Foucault, Michel: Freundschaft als Lebensform, in: Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hg. von Defert, Daniel und Ewald, François, Frankfurt am Main 2017, S. 68–73.
Von Dr. Silvia Hess, Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung
Schreiben als konzentrierte Arbeit

Mein Lieblingsobjekt im Nachlass von Cécile Lauber ist ihre Underwood-Schreibmaschine. Dank einer Internetrecherche mit der seitlich eingravierten Seriennummer schätze ich das Produktionsjahr auf 1929 und erkenne die technischen Finessen des Modells Nummer 3, nämlich eine manuelle Bandumkehr und zwei Randauslösetasten. Schreiben mit der Underwood erzeugt eine mechanische Geräuschkulisse: Klick, klack, klack klappern die Tasten, bis die Glocke klingt und die Schreibwalze quer zurückgeschoben wird.
Cécile Lauber verstand Schreiben als konzentrierte Arbeit. Vertraute Schreibwerkzeuge gehörten offenbar dazu. Neben der Underwood verwendete Lauber durchgängig Bleistift. «Nal liebte meinen Bleistift, das glänzende Lineal aus Antikorodal, das auf der spiegelnden Glasfläche des Schreibtisches lag», schrieb sie ihrer Katze Nala im gleichnamigen Buch von 1942 zu.
Das mechanische Schreibgeräusch lässt sich im Internet in vielen Varianten als Soundeffekt herunterladen. Konzentration steht in Bibliotheken zur freien Verfügung.
Gelesen von Vera Bommer, Schauspielerin
Auszüge aus Cécile Laubers Werk

Am 3. November 2024 fand in der Bibliothek Zug ein Diskussionsabend zu Cécile Lauber statt. Die Schauspielerin Vera Bommer las dabei aus ihrem Werk.